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Hessen: Hilfe für Hessens schwierigste Jungen

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Von: Jutta Rippegather

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Schild in der Förderwerkstatt des Jugendhilfszentrums Don Bosco Sannerz.
Schild in der Förderwerkstatt des Jugendhilfszentrums Don Bosco Sannerz. © Christoph Boeckheler

Hessens einziges geschlossene Kinderheim kann eine Chance sein für Minderjährige, die schon aus diversen Einrichtungen rausgeflogen sind. Doch nicht jeder kommt mit den Rahmenbedingungen zurecht.

Jüngst stand am Samstagmorgen mal wieder ein Ehemaliger vor der Tür. „Na, wird gleich wieder geputzt?“, fragte er. So ist es. Einmal pro Woche ist gemeinsames Saubermachen in der Gruppe Murialdo angesagt. Andere Rituale sind geändert oder ganz neu. Das Team hat auch die Aufnahmebedingungen angepasst. Die Jungen heute sind jünger als zu Beginn, im Moment zwischen zehn und knapp 14 Jahren alt. Je älter, desto mehr Störungsbilder - Medienkonsum trägt wesentlich dazu bei. Bei Jüngeren ist auch das Gewaltpotenzial geringer, die Chancen sind größer, helfen zu können. Wobei durchaus auch bei ihnen die Fetzen fliegen - besonders bei den gemeinsamen Mahlzeiten. Deshalb ist das Besteck aus Kunststoff.

Kinderknast sagten manche

Verändert hat sich auch die Haltung der Gesellschaft zu der Einrichtung. Kritische Stimmen sind kaum mehr zu hören. Was war das für ein Aufschrei im Vorfeld der Eröffnung vor elf Jahren. Manche sprachen gar von Kinderknast. Das ist das falsche Wort. In einem Gefängnis ist der Alltag streng reglementiert. Wohingegen in der intensivpädagogisch-therapeutischen Wohngruppe in Sinntal-Sannerz die Kinder am Konzept mitwirken. Trotzdem ist sie anders als eine normale Einrichtung der Jugendhilfe.

Die acht männlichen Bewohner können nicht nach eigenem Gusto ein- und ausgehen. Die Tür ist verschlossen. Die Schlüssel und damit die Macht liegt in den Händen der Erwachsenen.

Die Gruppe Murialdo ist ein geschlossenes Kinderheim. Bundesweit gibt es einige davon. In Hessen ist es das einzige und nur für Jungen. Die meisten haben bereits eine längere Jugendhilfekarriere hinter sich, waren womöglich schon in der Psychiatrie, gelten als selbst- oder fremdgefährdend. Sie kommen mehr oder weniger freiwillig, durch Beschluss eines Familiengerichts und auf Basis eines Gutachtens. Sind zuvor aus mehreren Einrichtungen 'rausgeflogen, wissen, wie man sich Autoritäten entzieht, kennen die Tricks, wie man Erwachsene gegeneinander ausspielt, wissen zu spalten.

Rasten schnell aus

Schule finden sie doof, zeichnen sich durch herausforderndes Verhalten aus - sind aggressiv gegen sich und/oder andere, bindungsunfähig, hyperaktiv, klauen vielleicht auch, waren schon kriminell. Haben ihre Emotionen nicht im Griff, rasten beim kleinsten Konflikt aus.

Systemsprenger denkt jetzt so mancher. Ein Wort, das Erziehungsleiter Martin Lotz nicht mag. „Sie sind Systemopfer, haben einen guten Kern, sie können nichts dafür.“ Frühkindliche Vernachlässigung, das Trauma, nicht geliebt zu werden, habe sie zu den „schwierigsten Kindern Hessens gemacht“, die im geschützten Raum von den „besten Pädagogen Hessens“ betreut würden. „Wir schließen hier keine Kinder ein.“

Systemopfer

Wie viele Menschen hat sich Lotz in den vergangenen Wochen Gedanken über die Tat in Freudenberg gemacht. Zwei Mädchen, zwölf und 13 Jahre alt, sollen die zwölfjährige Luise mit Messerstichen umgebracht haben. In deren Familien sei im Vorfeld schon etwas schiefgelaufen, sinniert der 50-Jährige. „Da muss es schon Gewalt gegeben haben.“

Wissenschaftliche Studie

Das Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz hat die Wohngruppe Murialdo, eine intensivpädagogisch-therapeutische Wohngruppe, in den ersten fünf Jahren wissenschaftlich begleitet. Geleitet wurde die Langzeitstudie von Michael Macsenaere.

Was sind die Ergebnisse?

Schwer erreichbaren Jugendlichen kann in einer geschlossenen Unterbringung besser geholfen werden. Entscheidend für den Erfolg der „grenzsetzenden Pädagogik“ ist das Alter und Straffälligkeit, die Orientierung an den Stärken der jungen Menschen und dass sie sich beteiligen können.

Welche Defizite bringen die Kinder mit?

Am häufigsten waren mit 84 Prozent Aufmerksamkeitsdefizite, 81 Prozent zeigten aggressives Verhalten, 69 Prozent dissoziales Verhalten wie Lügen zum Beispiel, bei 65 Prozent stellten die Wissenschaftler:innen mangelndes Bindungsverhalten fest, 62 Prozent waren mit „Delinquenz belegt“, das heißt formalen Sanktionen wegen einer kriminellen Handlung.

Wie bewerteten die jungen Menschen selbst ihre Veränderungen?

Die meisten sagten, es ginge ihnen viel besser (36 Prozent) oder besser (29 Prozent). 21 Prozent meinten, es ginge ihnen unverändert, sieben Prozent antworteten: schlechter oder viel schlechter.

Was sagten sie am Ende der Hilfen?

„Dass ich keine Drogen mehr nehme; dass ich es besser schaffe, in der Gruppe zu leben.“ „Dass ich nicht immer ausraste jetzt und nicht mehr einfach schlage.“ „Es hat sich verbessert auf den Heimfahrten, das sagen sogar meine Eltern. Es gibt weniger Streit, ich raste nicht mehr aus so viel und so.“ „Mein Gefühl insgesamt – das liegt an der ganzen Einrichtung; meine Kollegen draußen sagen auch, ich habe mich verändert.“

Sind damit die Probleme gelöst?

Keinesfalls. Die Jungen der Gruppe Murialdo weisen bei Hilfeende immer noch einen erheblichen Betreuungsbedarf auf, heißt es in dem Fazit der Studie. Die Auswahl geeigneter Anschlusshilfen unter Berücksichtigung einer fundierten Abschlussdiagnostik sei zwingend erforderlich.

Er schöpft aus einem großen Erfahrungsschatz. Das Jugendhilfezentrum Don Bosco Sannerz umfasst weitaus mehr als die acht Plätze für besonders schwierige Jungen. Seit mehr als 75 Jahren betreiben die Salesianer Don Bosco in der Hügellandschaft des östlichen Main-Kinzig-Kreises eine Einrichtung für Bildung, Schule und Wohnen für knapp 70 männliche Personen im Alter zwischen zehn und 23 Jahren. Sie können hier einen Hauptschulabschluss machen, eine Ausbildung.

Diplomsozialpädagoge Lotz hatte seinerzeit an dem Konzept für die nach Ordensgründer Murialdo benannte Gruppe mitgearbeitet. Der Anstoß dazu kam von der damaligen Landesregierung unter CDU-Ministerpräsident Roland Koch. Anlass war ein brutaler Überfall Minderjähriger auf einen Rentner in Hamburg. In Bayern existieren schon länger solche Einrichtungen. Auch Katrin Löffert, 37 Jahre alt, ist von Anfang an dabei. Sie leitet das Haus, das an das alte Probsteigebäude angebaut wurde, das dem Bistum Fulda gehört. Die 37-Jährige ist eine von denen mit Schlüssel.

2 Türen sind abgeschlossen

Damit schließt sie die erste Tür auf. Die führt in die Schleuse. Garderobe mit Jacken, Regal für Straßenschuhe, mit acht Namen versehene Spinde, in denen die Jungen ihre Wertsachen aufbewahren - überwiegend Unterhaltungselektronik. Hinter der zweiten Tür das lichtdurchflutete Foyer, die Treppe führt in den ersten Stock mit den acht Einzelzimmern, jedes mit separatem Bad. Links der große Hof mit drei Meter hohen Mauern, der doppelt so hohen Kletterwand, mit Fußballtor, Tischtennisplatte, Basketballkorb. Platz zum Inlinern, Rollerfahren. An einer Wand acht mit Namen versehene Holzmännchen, die den individuellen Fortschritt eines jeden Jungen sichtbar machen.

Morgens aufstehen, zweimal täglich Zähne putzen - das steht am Anfang. Das eigene Zimmer aufräumen, nicht sofort ausrasten - dafür gibt es Punkte, mehr Freiheiten. Die Ziele setzen sich die Jungen im Gespräch mit ihrer jeweiligen Bezugsperson. Das Betreuungsverhältnis ist 1:1. Wenn jemand in den „Time-Out-Raum“ will, um seine Wut 'rauszulassen, sich auszuschreien, sind zwei vom Team anwesend.

Der gute Personalschlüssel ist eines der Erfolgsrezepte, sagt Lotz. So wie die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern beziehungsweise den Vormunden - die Hälfte der Mütter und Väter hat die Verantwortung für den Nachwuchs abgegeben. Die Geschlossenheit biete Schutz und Sicherheit, die Möglichkeit, Kindheit nachzuholen, sagt Lotz. Die Rahmenbedingungen halte aber nicht jeder aus. „Das hier ist nicht die Ultima Ratio, sondern eine Möglichkeit von vielen.“

Ersten zwei Wochen kein Ausgang

Das Team ist multiprofessionell - Lehrkräfte, Pädagog:innen, eine Psychologin, ein Arzt. In einem Raum steht eine E-Gitarre, liegen Malutensilien. Sport, Musik, Kunst als Vehikel, um Misstrauen abzubauen, sich zu öffnen, ein verlässliches „Arbeitsbündnis“ zu schließen. Nicht einfach angesichts der früheren Erfahrungen, dass bei Erwachsenen Wort und Tat nicht übereinstimmen. Mehr als 90 Prozent der Jungen erscheint ohne Polizei zur Aufnahme. Sie haben sich im Vorfeld die Einrichtung angeschaut. Wissen, dass sie die ersten zwei Wochen keinen Ausgang haben. Danach steigern sich die Freiheiten. Erst Ausflüge mit der Bezugsperson, später dürfen sie auch alleine 'raus - zum gemeinsamen Müllsammeln in den Nachbarort, nebenan in den Wald, zum Training beim örtlichen Fußballverein, in die staatlich anerkannte Schule des Zentrums, zur Bandprobe, zum therapeutischen Reiten. Am Ende steht das Probewohnen in einer der offenen Gruppen im Ort, dann der Umzug. Das System ist durchlässig. Wer es aktuell nicht schafft, kann zurückkehren in die Gruppe Murialdo und es später nochmal probieren.

Durchschnittlich eineinhalb Jahre dauert es, bis ein Junge so weit ist, dass er den geschützten Raum verlassen kann. Erst in eine andere Gruppe umziehen, später komplett auf eigenen Füßen stehen - vielleicht eine kleine Wohnung in der Nähe der Mutter. Viele Ehemalige melden sich ab und zu, sagt Löffert. So wie der junge Mann, der an besagtem Samstag vor der Tür stand und nach dem Putzen fragte. Andere tauchen komplett unter. Die Verläufe bleiben schwierig. Da macht sich die Diplomsozialarbeiterin nichts vor. Das Team ist engagiert, kann aber keine Wunder bewirken. „Alle Kinder kann man nicht retten.“

Das ehemalige Probsteigebäude. Jutta Rippegather
Das ehemalige Probsteigebäude. Jutta Rippegather © Jutta Rippegather

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