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Hessen: Das Krankenhaus als Hamsterrad

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Von: Jutta Rippegather

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In Deutschland wird im internationalen Vergleich oft operiert. Auch weil es sich für die Krankenhäuser lohnt.
In Deutschland wird im internationalen Vergleich oft operiert. Auch weil es sich für die Krankenhäuser lohnt. © dpa

Der Marburger Bund diskutiert mit Experten über den Reformbedarf im Gesundheitswesen. Denn der Nachwuchs läuft weg.

Susanne Betz kann es kaum erwarten, nach der Elternzeit wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. „Ich liebe es, durch die Notfallambulanz zu flitzen“, gesteht die Anästhesistin bei der Podiumsdiskussion der Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB). Auch Stefanie Minkley hat Jahre gebüffelt, um ihre Facharztprüfung zu absolvieren. Trotzdem hat die Chirurgin ihren Krankenhausjob hingeschmissen, will jetzt für die SPD bei der Landtagswahl kandidieren. „Zu viel Arbeit, zu wenig Zeit für den Patienten“, ist einer der Gründe für ihre Kündigung. Die Medizin sei dem Diktat der Ökonomie untergeordnet. „Das ist unethisch, gegen unseren Eid.“ Und so wie ihr gehe es vielen jungen Ärztinnen und Ärzten. Sie wollten in interdisziplinären Teams und nicht mit Ellenbogen arbeiten, nicht unter Fabrikbedingungen, die sie selber krank machen.

Unflexible Arbeitszeiten

Dringenden Reformbedarf sieht auch Betz. Ihre Hauptkritik richtet sich gegen die unflexiblen Arbeitszeiten, die verkrusteten Strukturen im Krankenhausbetrieb, die eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie so sehr erschweren, aber auch gegen die überbordende Bürokratie sowie die fehlende Digitalisierung. Dem dringend benötigten Nachwuchs werde der Spaß am Beruf vergällt. „Wir müssen jetzt handeln, nicht morgen“, fordert die junge Ärztin, Mitglied im MB-Vorstand im Bezirksverband Marburg. „Der Fokus muss auf dem Patienten liegen.“

Die Stichworte sind gefallen. Die ärztliche Tätigkeit leide unter „absurder“ Dokumentationspflicht, unzeitgemäßen Strukturen und die Fallpauschalen hätten zu Fehlanreizen geführt. Betrachtet man die reine Zahl, gab es zwar noch nie so viele Ärztinnen und Ärzte im Land, sagt MB-Bundesvorsitzende Susanne Johna. Doch die arbeiten weniger als die Generation vor ihnen – weil es jetzt ein Arbeitszeitgesetz für sie gibt. Und weil viele wegen der Familie eine Teilzeittätigkeit wählen. Johna bezweifelt, dass es Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gelingt, mit der geplanten Reform die Auswüchse der Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu stoppen. Sie geht davon aus, dass die Auswirkungen eines Ärztemangels demnächst zu spüren sein werden. Daran könne auch eine dringend erforderliche Aufstockung der Studienplätze nicht mehr so schnell etwas ändern. „Die durchschnittliche Weiterbildungszeit liegt über zehn Jahren.“

Marburger Bund

Die Gewerkschaft vertritt die Interessen der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte.

Ihr Kampf gilt besseren Arbeitsbedingungen, leistungsgerechter Vergütung in den Krankenhäusern sowie praxisnaher Medizinerausbildung.

Der hessische ist mit mehr als 13000 Mitgliedern der fünftgrößte Landesverband. jur

Ferdinand Gerlach geht nicht davon aus, dass eine Erhöhung der Anzahl der Ärzt:innen etwas bringt. Nach Ansicht des Direktors des Instituts für Allgemeinmedizin an der Frankfurter Uni gibt es nicht zu wenig Personal. Das Problem seien die im Europavergleich sehr langen Liegezeiten in den Krankenhäusern, die vielen nicht notwendigen Eingriffe, ebenso wie Hausarztbesuche wegen Bagatellen. „Sie werden im Hamsterrad weiterlaufen, wenn wir das System nicht ändern.“ Der geschäftsführende Direktor der hessischen Krankenhausgesellschaft, Steffen Gramminger, plädiert für beides: mehr Studienplätze und eine andere Kultur, wie sie Gerlach fordert. „Bei uns rennt jeder zum Arzt, wenn er Husten und Schnupfen hat.“ Darüber hinaus fordert Gramminger ein Ende der strikten Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung – enge Kooperationen zwischen Arztpraxen und Krankenhäusern sparten Ressourcen und nutzten den Patient:innen.

Notfallversorgung hat Priorität

Einig sind sich alle im Saal wie auf dem Podium: Als Allererstes bedarf es einer Reform der Notfallversorgung. Auch hier könnte Digitalisierung eine Schlüsselrolle spielen. Die Rettungsdienste bräuchten dringend vom Gesetzgeber Rückendeckung, sagt Betz. Es müsse Schluss damit sein, dass sie jeden ins Krankenhaus bringen müssen, der sie ruft.

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