Hessen: Ärztechef gegen weitere Lockdowns

Hessens Ärztekammerpräsident Pinkowski plädiert in der Corona-Politik für einen Interessenausgleich zwischen Gesundheit und Wirtschaft. Unbefriedigend sei weiterhin die Datenlage.
Die Bilder von nächtlichen Leichentransporten und überfüllten Krankenhäusern in Bergamo haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Der Name der norditalienischen Stadt wurde zum Synonym für ein von den Corona-Erkrankungen überfordertes Gesundheitssystem. „Wir hatten damals eine etwas merkwürdige Herangehensweise“, sagt Giovanni D´Angelo, Präsident der Ärztekammer der Provinz Salerno. In Italien gebe es keine Arztpraxen, an die sich Patient:innen mit leichteren Symptomen hätten hinwenden können. Wer medizinische Hilfe benötige, komme ins Krankenhaus. Im März 2020 war der Ansturm so groß, dass er nicht mehr bewältigt werden konnte.
Arztpraxen als Schutzwall
Edgar Pinkowski, Präsident der Landesärztekammer, fühlt sich bestätigt. Die Struktur von zwei Sektoren - ambulant und stationär - habe sich in der Corona-Pandemie bewährt. „Die Arztpraxen waren der Schutzwall für die Krankenhäuser.“ Was nicht heißt, dass er keinen Verbesserungsbedarf in der Coronapolitik sieht. Seit fünf Jahren verbindet die Landesärztekammer und die Ärzte- und Zahnärztekammer Salerno eine Partnerschaft. Erstmals trafen sich Mitglieder beider Berufsverbände zu einem deutsch-italienischen Fortbildungssymposium. Unter der Überschrift „Kampf gegen das Virus“ tauschten sich die rund 60 Expert:innen in Vorträgen und Diskussionen über Folgekrankheiten von Covid-19 aus, stellten ihre Strategien im Kampf gegen die Pandemie vor. Außer um Fortbildung gehe es um die Förderung des europäischen Verständnisses, sagt Pinkowski. „Sowohl die aktuellen weltpolitischen Ereignisse als auch das Thema der Fortbildung verdeutlichten, dass eine Vereinzelung weder politisch noch zwischenmenschlich gut tut.“
Insgesamt, so sagt sein italienischer Kollege, sei das deutsche Gesundheitssystem besser aufgestellt. Doch was die Impfraten betreffe, stehe Italien nicht nur bei den Quoten besser da. „Wir haben alle statistischen Daten in Salerno.“ Ein Zustand, von dem die Ärzte hierzulande nur träumen können. „Wir brauchen endlich die relevanten Daten“, fordert Pinkowski.
Arztpraxen als Schutzwall
Verlässliche Informationen stehen denn auch ganz oben auf seiner Wunschliste für die Vorbereitung auf eine mögliche nächste Corona-Welle. Gefolgt von einer bundeseinheitlichen Steuerung der Krankenhauskapazitäten. Hessen habe mit dem Ivena-System gute Erfahrungen gemacht. „Damit müssen nicht so viele Betten freigehalten werden.“ Eine Impfkampagne mache erst Sinn, wenn der an die neuen Varianten angepasste Impfstoff auf dem Markt sei. Keiner könne voraussagen, wie das Virus in den kommenden Monaten mutiert. Gleichwohl sollten die Menschen sich darauf vorbereiten. Eine hohe Impfquote für Influenza etwa sei wichtig. „Sonst werden unsere Krankenhäuser noch zusätzlich belastet.“
Ein weiterer Lockdown steht für Hessens Ärztepräsidenten außer Diskussion. Schulen und Kitas dürften nicht noch einmal geschlossen werden, für Altenheime sei eine andere Lösung zu finden „als Einzelhaft“. Pinkowski plädiert für einen „Spagat“, einen Mittelweg zwischen den Interessen von Gesundheit und Wirtschaft. Deutschland sei nicht China: „Wir brauchen keine Null-Covid-Strategie.“