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Die Bürgerrätin

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Von: Peter Hanack

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Steckt gerade mitten in den Examina: Jule Halbach studiert in Wiesbaden. Unterstützung beim Lernen und gute Bildungschancen sollte es für alle geben, ist sie überzeugt. Dazu gehört, Kinder und Jugendliche mitreden zu lassen und sie ernst zu nehmen.
Steckt gerade mitten in den Examina: Jule Halbach studiert in Wiesbaden. Unterstützung beim Lernen und gute Bildungschancen sollte es für alle geben, ist sie überzeugt. Dazu gehört, Kinder und Jugendliche mitreden zu lassen und sie ernst zu nehmen. © Montag Stiftung Denkwerkstatt/Ch

Das Porträt: Jule Halbach studiert in Wiesbaden Jura und Wirtschaft – und setzt sich mit der „Montag Stiftung Denkwerkstatt“ für Bildungsgerechtigkeit ein

Das Schreiben, das da im Briefkasten von Jule Halbachs WG lag, hätte auch Werbung sein können. Sie wollte den Umschlag samt Inhalt schon wegwerfen. Stichworte wie „Bürgerrat“ und „Zufallsauswahl“ sagte ihr nichts. „Ich hab dann doch mal den Absender gegoogelt“, erzählt sie. Und der schien der jungen Studentin durchaus seriös.

Es war die „Montag Stiftung Denkwerkstatt“. Diese hatte bundesweit Menschen eingeladen, sich gemeinsam in einem so genannten Bürgerrat Gedanken über das Lernen und die Bildung der Zukunft zu machen. Unter den zufällig angeschriebenen war auch Jule Halbach – und die machte mit, als eine der Teilnehmenden aus Hessen.

Halbach ist 24, studiert in Wiesbaden seit 2018 Jura und Wirtschaft. Gerade sitzt sie an den Vorbereitungen für das Staatsexamen, sechs schriftliche Prüfungen von jeweils fünf Stunden, dann noch eine mündliche Prüfung im Juli. „Ich glaube, das ist so ziemlich das Stressigste, was man sich antun kann“, sagt sie und lacht. Und dann sind da noch die Prüfungen im Fach Wirtschaft. An der European Business School (EBS) kann man beides parallel studieren. Wenn man es denn kann, denn einfach sind die Studien und die Abschlüsse nicht. Zeit für den Bürgerrat hat Jule Halbach trotzdem gefunden.

Sollte sie tatsächlich gestresst sein, was kein Wunder wäre, so merkt man es ihr im Gespräch nicht an. Das liegt vielleicht auch daran, dass ihr Lernen noch nie schwer gefallen ist. Sie gehört der Vereinigung Mensa an, in der Menschen mit einem besonders hohen Intelligenz-Quotienten Mitglied sind, hat bereits mehrere Stipendien eingesammelt, so auch für das Studium an der EBS.

Ohne das könnte sie sich den Besuch der Hochschule und die kleine Wohnung in Wiesbaden, in die sie inzwischen umgezogen ist, kaum leisten. Liegen die Studiengebühren doch bei rund 15 000 Euro im Jahr. Denn reich ist Jule Halbach nicht, ebensowenig wie ihre Familie, die bei Stuttgart lebt, wo auch sie herkommt. Als Jugendliche war sie im Kanu-Rennsport aktiv, 2015 gar Deutsche Meisterin im Kanumarathon, im Jahr darauf mit der Junioren-Nationalmannschaft im Drachenbootfahren in Moskau. Lernen und Leistungssport haben für sie gut zusammengepasst.

Die Montag Stiftungen

Chancengleicheit und Bildungsgerechtigkeit stehen dieses Jahr im Fokus der Beratungen des Bürgerrats der Montag Stiftungen. Am 18. und 19. März werden rund 100 Bürgerräte die Empfehlungen dazu in Montabaur bei Limburg verabschieden.

Die Montag Stiftungen sind eine gemeinnützige Stiftungsgruppe mit Sitz in Bonn, die von dem Architekten und Bauunternehmer Carl Richard Montag gegründet worden ist.

Ziel der drei operativen Stiftungen ist es, „eine Alltagswelt zu schaffen, in der alle Menschen die gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben haben“. Der Bürgerrat Bildung und Lernen wird von der Montag Stiftung Denkwerkstatt organisiert und finanziert.

Teilnehmende für den Beirat wurden per Postwurfsendung oder in einer telefonischen Zufallsstichprobe eingeladen. Von den 21 000 Menschen, die kontaktiert wurden, haben sich 700 am Bürgerrat beteiligt.

Die rund 700 Teilnehmenden sollten einen Querschnitt der Bevölkerung darstellen. Frauen und Männer waren fast in gleicher Zahl vertreten, auch die regionale Verteilung entsprach in etwa dem Bevölkerungsschnitt. Überrepräsentiert waren junge Menschen sowie Hochschulabsolvent:innen.

In mehreren Treffen formulierten die Teilnehmenden Empfehlungen für ein Sofortprogramm Bildung und Lernen, die an die Politik gerichtet sind. Über ihre Empfehlungen haben sie sich mit Bildungsausschüssen in mehreren Landtagen und unter anderem mit der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken, der saarländischen Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot und Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz ausgetauscht.

Kinder und Jugendliche von acht bis 16 Jahren wurden parallel in einem eigenen Beirat beteiligt. Auch sie trugen Forderungen für die „Veränderungen für die Schule von morgen“ zusammen. Ende vergangenen Jahres haben sie diese in einem offenen Brief unter anderem an die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien, und die SPD-Vorsitzende Esken übermittelt. Daran teilgenommen haben 220 Kinder und Jugendliche aus 28 Schulen und Bildungseinrichtungen.

Weitere Informationen gibt es unter montag-stiftungen.de und unter buergerrat-bildung-lernen.de pgh

„Jeder hat so seine eigene Geschichte, was Bildung angeht,“ sagt sie. „Ich selbst habe immer großes Glück gehabt, wurde immer unterstützt und werde es immer noch“, erzählt sie. Und weiß, dass dies längst nicht selbstverständlich ist. Bildung, davon ist Halbach überzeugt, müsse für alle gleichermaßen zugänglich sein, dürfe nicht vom Elternhaus abhängen. „Chancengerechtigkeit finde ich sehr wichtig“, sagt die Jura-Studentin. Und diese Gerechtigkeit müsse schon in der Schule oder am besten in der Kita beginnen.

Das waren auch Positionen, die sie in die Treffen des Bürgerrats „Bildung und Lernen“ eingebracht hat. Ein erstes, corona-bedingt digitales Treffen gab es Ende Mai 2021. Im September fand dann in Berlin eine weitere Runde des Bürgerrats statt, seitdem immer wieder mal Treffen im kleineren Kreis. Ergebnisse der Beratungen gingen an die Politik. „Dass es tatsächlich einen Austausch gibt, dass sich Politiker und Politikerinnen mit unseren Ideen beschäftigen, wir mit ihnen darüber reden können, finde ich gut und wichtig“, sagt Halbach.

Die wichtigsten Ergebnisse hat der Bürgerrat als Empfehlungen für ein Sofortprogramm formuliert und auf 30 Seiten in einer Broschüre versammelt. Neben der Chancengleichheit spielen dort auch lebensnahes Lernen, eine gute Berufsorientierung und die Forderung nach kompetenten Lehrkräften eine große Rolle.

Ein solcher „Austausch auf Augenhöhe“, wie es ihn im Bürgerrat und im Kontakt mit den politisch Aktiven gegeben habe, könne helfen, die Demokratie zu stärken. Damit solle man in der Schule anfangen. Es brauche dort nicht nur eine gute Ausstattung und Lernmaterial für alle, eine ausreichende Sprachförderung für jene, die diese benötigten, ein kostenloses Schulessen, sondern auch die Möglichkeit für die Kinder und Jugendlichen mitzureden. „Man muss schon diesen jungen Menschen sagen, eure Stimme ist wichtig.“

Besonders spannend findet Jule Halbach, dass im Bürgerrat Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebenssituationen zusammenkamen. „Man muss offen sein für die Ideen anderer, ihnen zuhören, sich gegenseitig ernst nehmen, einfach auch miteinander sprechen, das gibt einem ein Stück weit das Vertrauen in die Demokratie zurück.“

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