Angehörige von Hanau-Opfern: „Ich habe all meine Kraft verloren“

Erste öffentliche Sitzung des Hanau-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag: Hinterbliebene schildern die schreckliche Zeit nach dem rassistischen Anschlag.
Ihr letztes Gespräch beendeten sie lachend, erzählt Vaska Zlateva. Kaloyan Velkov und seine Cousine, die ihm so nahe war, dass er sie Schwester nannte, besprachen am Telefon, wo sie am Wochenende hingehen sollten und wer die Rechnung übernehmen würde. Dann sagte der 33-Jährige noch zu Zlateva, die am Flughafen arbeitete: „Leg dich hin, Schwester. Du musst früh aufstehen.“
Es ist 21.46 Uhr am 19. Februar 2020. Keine zehn Minuten später betritt der rassistische Attentäter von Hanau die Bar La Votre. Lkw-Fahrer Velkov arbeitet hier nebenbei, für 50 Euro pro Tag, auch weil er Geld für die Augen-OP seines in Bulgarien lebenden achtjährigen Sohnes braucht. Velkov, der mit seiner Mutter und Zlateva in Erlensee lebt, wird mit mehreren Schüssen ermordet. „Kaloyan kam nach Deutschland, weil ich ihm erklärt habe, dass das ein ordentlicher Staat ist“, erinnert sich die 36-Jährige, die sich Vorwürfe macht.
„Wahrheit und Gerechtigkeit“
Später sagt sie: „Ich habe mein Vertrauen in die Polizei verloren.“ Und fordert mit fester Stimme „Wahrheit, Gerechtigkeit“ und Konsequenzen, damit „so etwas nicht mehr passiert.“ Die „verantwortlichen Personen sollen endlich Verantwortung übernehmen“.
Vaska Zlateva hat am Freitag als erste Angehörige im Untersuchungsausschuss des Landtags zum Anschlag in Hanau ausgesagt, während Unterstützer:innen vor der Tür eine Mahnwache hielten. Es war die erste öffentliche Sitzung des Ausschusses, der klären soll, ob und inwiefern hessische Behörden Fehler gemacht haben. Nach ihr kommt Hayrettin Saraçoglu zu Wort, dessen Bruder Fatih kurz nach Velkov vom selben Täter auf offener Straße erschossen worden war, vor der Bar Midnight. Anders als Vaska Zlateva erfährt Saraçoglu davon noch nichts in der Tatnacht. Erst am Morgen erhält Saraçoglu, der in Regensburg wohnt, einen Anruf von Diana Sokoli, der Freundin seines Bruders, von dessen Handy, ohne dass sie die ganze Wahrheit verrät. Daraufhin fährt er nach Hanau und erfährt in Fatihs Wohnung von der Vermieterin, was geschehen ist.
Ein Behältnis mit Gewebeproben
Was in den nächsten Tagen geschieht, ist fast unglaublich und lässt die Abgeordneten im Ausschuss fassungslos zurück. Denn Hayrettin Saraçoglu bekommt einen Anruf seiner Anwältin: Nach der Obduktion seines ermordeten Bruders seien noch Teile der Leiche übrig. Er könne sie haben, oder sie würden verbrannt. Niemand habe ihn vorher informiert oder gar gefragt, ob sein toter Bruder obduziert werden könne, sagt der 45-jährige. Nun bringt ihm der Bestattungsunternehmer ein großes Behältnis mit den entnommenen Gewebeproben. Nicht ein Glas voll, wie er angenommen hatte, sondern ein größeres Paket.
Saraçoglu will es in die Türkei bringen, um es mit der Leiche im Grab zu bestatten, die schon dort ist. Er übernachtet in einem Hotel und bittet den Besitzer, den Kühlschrank benutzen zu dürfen, um den Behälter zu kühlen. „Stellen Sie sich vor: Du schläfst im Hotel mit den Organen deines Bruders“, schildert Hayrettin Saraçoglu. „Du kämpfst mit deiner Psyche, und gleichzeitig musst du alles organisieren.“
Mit Körperteilen des Getöteten in die Türkei
Am nächsten Tag setzt sich Hayrettin Saraçoglu ins Flugzeug in die Türkei. „Wenn mich ein Polizist gefragt hätte: ,Was haben Sie dabei?‘: Was hätte ich sagen sollen?“, gibt er seine Gedanken wieder. „Ich konnte aber durch, ohne dass ich gefragt wurde.“ So seien die körperlichen Überreste des getöteten Bruders schließlich auf die Leiche ins Grab gelegt worden.
Wie kann es passieren, dass ein Mensch in eine solche Situation gebracht wird? Die Abgeordenten fragen nach. Warum habe der Bestattungsunternehmer die Körperteile nicht selbst in die Türkei gebracht, sondern sie dem Bruder übergeben, will CDU-Obmann J. Michael Müller wissen. „Das ist auch meine Frage“, sagt der Zeuge schlicht.
Er kann nicht mehr
Mehrfach muss Hayrettin Saraçoglu seine Aussage unterbrechen, weil er nicht mehr weiterreden kann, hier, in diesem nüchternen Saal. Er hat eine Dolmetscherin mitgebracht, die die Fragen und seine Antworten überträgt, obwohl Saraçoglu gut Deutsch spricht. Er wolle sichergehen, dass er alle Fragen gut verstehe, sagt er. Und außerdem: wegen der großen Belastung.
„Ich habe all meine Kraft verloren“, berichtet Saraçoglu an einer Stelle – als er sich an den Moment erinnert, in dem er, in Hanau angekommen, vom Tod seines Bruders erfuhr. Hilfe habe er in den nächsten Tagen kaum erfahren. Seine Frau habe alles zusammengehalten und die Situation schließlich nicht mehr ausgehalten. Jetzt hätten sie sich voneinander getrennt. Daneben gab es Unterstützung vom Weißen Ring, von Vereinen, auch von einer bayerischen Behörde.
Was hätte sich Saraçoglu von den hessischen Behörden gewünscht, möchte SPD-Obfrau Heike Hofmann wissen. „Ich hätte mir gewünscht, dass jemand von der Polizei, von den Behörden uns den Weg weist, uns informiert“, sagt der Zeuge. Alle Entwicklungen habe er den Medien entnommen.
Der Anschlag
Aus rassistischen Motiven ermordete ein 43-Jähriger am 19. Februar 2020 Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Danach tötete er offenbar seine Mutter und sich selbst.
Er hatte die Tatorte vorher ausgekundschaftet. Am Heumarkt in der Innenstadt betrat er zunächst die Bar La Votre und erschoss Kaloyan Velkov. Die Aufnahmen der Überwachungskamera, die die FR gesichtet hat, zeigen, wie Velkov früh erkannte, dass ein bewaffneter Mann das Lokal betrat. Er versuchte, in Deckung zu gehen und sich zu wehren, wurde aber von mehreren Schüssen getroffen. Auch eine Hauptschlagader soll durchtrennt worden sein, sodass der 33-Jährige verblutete. Die Polizei war etwa drei Minuten nach der Tat vor Ort. Doch es vergingen etwa 25 Minuten, bis Velkov hinter dem Tresen entdeckt wurde. Eine Polizistin, die in der Bar telefonieren wollte, fand ihn.
Vor der Bar Midnight , die neben dem La Votre liegt, ermordete der Attentäter den 34-jährigen Fatih Saraçoglu, in der Bar den 29-jährigen Sedat Gürbüz. Der Täter plante, in der Innenstadt „mind. 10“ Menschen zu töten, wie er auf einem Blatt notierte. Weitere Morde wollte der Terrorist in einer anderen Bar, in die er doch nicht ging, und in einem Kiosk begehen. In letzterem war ein Mitarbeiter glücklicherweise in einem anderen Raum, als der 43-Jährige reinkam. Dass er nicht seine gesamten Mordpläne umsetzte, ist auch Vili Viorel Paun zu verdanken. Der 22-Jährige beobachtete den Täter aus seinem Auto heraus und störte ihn dadurch. Paun folgte ihm nach Kesselstadt, wählte den Notruf, kam aber wegen der mangelnden Besetzung und Weiterleitung nicht durch. Er wurde am Kurt-Schumacher-Platz ermordet. Danach erschoss der Täter im Arena Bar & Café mit angeschlossenem Kiosk fünf weitere Menschen.
Der Untersuchungsausschuss des Landtags, der sich im Juli konstituierte, soll klären, ob und inwiefern hessische Behörden vor dem Anschlag, währenddessen und danach Fehler machten. Er soll bis Ende 2022 etwa 25-mal tagen. gha
Ähnlich hatte es am Morgen Vaska Zlateva formuliert. „Niemand hat die ganze Zeit Informationen gegeben“, berichtete sie nicht nur über die Tatnacht, sondern auch über die Zeit danach. Es ist ein schwerer Gang für Zlateva, die sicherheitshalber eine Bulgarisch-Dolmetscherin zur Unterstützung dabei hat, aber sie tritt gefasst und entschlossen auf. Die alleinerziehende Mutter gibt eine Erklärung ab und spricht dann frei. Detailliert beschreibt die Zeugin, was sie erlebte.
Nachdem sie durch einen Freund vom Anschlag erfahren und „etwa 20-mal“ vergeblich versucht hatte, ihren Cousin zu erreichen, fuhr Zlateva zum Tatort. Dort habe Chaos geherrscht. Was sie sah, erinnerte sie an „einen Horrorfilm“. Ob ein Bulgare unter den Opfern sei, fragte sie einen Polizisten, was dieser verneint habe.
Einen Schock erlebt
Zlateva beobachtete, wie Leute in weißen Schutzanzügen in die Bar gingen. Dennoch hoffte sie, dass Velkov noch lebte. Gegen 4.30 Uhr wählte sie die 112 und wurde, wie die anderen Angehörigen, in eine Halle der Polizei im Lamboyviertel geschickt. Nach quälenden Stunden, gegen halb sieben, las ein Polizist die Namen der Getöteten vor. „Ich habe einen Schock erlebt.“ Sie und die anderen Familien „haben geweint und geweint“. Eine Freundin, die sie begleitete, sei gestürzt und drohte, an ihrer Zunge zu ersticken. Geholfen habe ihr eine andere Betroffene.
Vaska Zlateva beklagt, dass sie weder informiert noch angemessen betreut worden seien. Ungewissheit habe auch die folgenden Tage geprägt, und selbst heute, 22 Monate nach dem Anschlag, seien viele Fragen offen.
„Wir waren allein“
Eine Nummer der Polizei, die Zlateva am nächsten Morgen wählen sollte, sei die ganze Zeit besetzt gewesen. Erst fünf oder sechs Tage später sei die Polizei mit dem Ausländerbeirat zu ihnen gekommen, obwohl Velkov seinen Ausweis mit der Adresse dabeihatte. Bis dahin „waren wir allein“. Eine Polizistin habe ihr dankenswerterweise geholfen, der Mutter die Todesnachricht zu überbringen. Aber ansonsten habe sie von den Behörden so gut wie keine Hilfe bekommen. Vor der Obduktion habe niemand die Familie gefragt. Sie hätten der Untersuchung nicht zugestimmt, weil die Todesursache klar gewesen sei. Kaloyan Velkov sei als erster ermordet und als letzter, zehn Tage später, begraben worden. Sein Leichnam sei hin- und hergekarrt und über Griechenland nach Bulgarien geflogen worden.
Ebenfalls unerträglich sei, dass Velkov nach den tödlichen Schüssen etwa 25 Minuten hinter dem Tresen lag, bis eine Polizistin ihn eher durch Zufall entdeckte. „Warum?“, fragt Zlateva. Es seien doch viele Einsatzkräfte vor Ort gewesen.
Opfer von Rassismus
Kaloyan Velkov sei ein guter Mensch gewesen, habe ihr viel geholfen und mit niemandem Probleme gehabt. Er habe keine Unterschiede zwischen den Menschen gemacht – und sei Opfer von Rassismus geworden. Sie habe sich oft gefragt, warum ihm das passiert sei und weshalb die Sicherheitsbehörden zum Beispiel nicht auf die Webseite des Attentäters aufmerksam geworden sind. Durch die tat sei ihr bewusst geworden: „Dieser Rassismus existiert.“
Das Attentat hat Ängste und Depressionen bei Zlateva ausgelöst. Sie verlor ihren Job. Lediglich Erlensees Erste Stadträtin Birgit Behr (CDU) habe sie unterstützt, ihr eine neue Wohnung und einen Job vermittelt. „Wäre sie nicht gewesen, hätte ich es nicht geschafft.“ Von Seiten des Staates sei abgesehen von der Überführung nach Bulgarien fast nichts gekommen.
Die Nachfragen der Ausschussmitglieder sind spärlich. Der Vorsitzende Marius Weiß (SPD) bedankt sich zunächst für die „eindrückliche Schilderung“. Er möchte wissen, ob Zlateva der Todeszeitpunkt ihres Cousins genannt wurde und ein Grund dafür, weshalb die Polizei ihn nicht früher fand. Letzteres habe man ihr nicht erklärt, entgegnet sie. Der Zeitpunkt des Todes sei auf etwa 22 Uhr beziffert worden.
Dirk Gaw (AfD) erklärt, seiner Fraktion sei es wichtig aufzuklären, warum der Attentäter eine Waffenerlaubnis hatte. Wobei der AfD-Politiker hervorhebt, dass es ein psychisch Kranker gewesen sei. Von Rassismus kein Wort.
Saadet Sönmez (Linke) fragt Zlateva, ob jemand sie nach dem Mord kontaktiert und ihr angeboten habe, sich von Velkov zu verabschieden. Nein, niemand habe sie gesucht und solche Angebote gemacht, berichtet Zlateva. „Das ist das Problem.“ Erst in der Leichenhalle, kurz vor dem Flug nach Bulgarien, habe sie von einem Mitarbeiter erfahren, dass ihr Cousin mit sechs Schüssen getötet wurde. Ihr wäre sehr wichtig gewesen, schnell zu erfahren, wo er ist, und ihn früh sehen zu können, auch weil „wir es nicht glauben konnten“. Seine Mutter habe in den Tagen danach an der Tür auf ihn gewartet und „ist weiter in einem Schockzustand“.