Anetta Kahane: „Rassismus hatte es nicht zu geben“

Anetta Kahane tritt an der Spitze der Amadeu-Antonio-Stiftung ab. Im Interview spricht sie über Erfolge im Kampf gegen Rechtsextremismus und Alltagsterror in Ostdeutschland.
Es ist ein Einschnitt in der Bildungs- und Beratungsarbeit gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus: Die 67-jährige Anetta Kahane, eine der wichtigsten Stimmen auf diesem Feld in Deutschland, gibt den Vorsitz der Amadeu-Antonio-Stiftung ab, den sie seit der Gründung im Jahr 1998 innehatte. Ein dreiköpfiger Vorstand soll die Arbeit künftig leiten, bestehend aus dem Geschäftsführer Timo Reinfrank, der Programmleiterin Tahera Ameer und dem Verwaltungschef Lars Repp.
Frau Kahane, vor 24 Jahren haben Sie die Amadeu-Antonio-Stiftung gegründet. Sie ist benannt nach einem Mann aus Angola, der 1990 im Alter von 28 Jahren von Skinheads getötet wurde. Was verbinden Sie mit Amadeu Antonio?
In den 90er Jahren habe ich die RAA geleitet, ein Projekt zur Schulentwicklung in den neuen Bundesländern, das sich auch mit Rassismus und Rechtsextremismus auseinandergesetzt hat. Wir haben damals viel in Eberswalde gearbeitet, mit den Kindern der Vertragsarbeiter. Ich kannte die Familie von Amadeu Antonio. Es gab eine ganz starke Verbindung. Sein junges Leben ist ausgelöscht worden. Das war das erste Mal nach der deutschen Einheit, dass ein solcher Fall bundesweit Aufsehen erregt hat. Es war gar keine Frage, dass wir die Stiftung nach ihm benennen.
Wie hat sich seitdem das gesellschaftliche Klima verändert?
Es ist überhaupt nicht zu vergleichen. Damals, als ich anfing, schrieb man das Wort Einwanderungsgesellschaft noch in Anführungszeichen. Völkische und radikale Stimmungen dominierten derart im Osten Deutschlands, dass es überhaupt nicht möglich war, Probleme mit Rechtsextremismus auch nur anzusprechen, ohne dass man dafür Ohrfeigen bekommen hat oder ins Rathaus zitiert wurde. Selbst das größte Unrecht, Mord und Totschlag, konnte man nicht ansprechen, geschweige denn Rassismus. Das hatte es nicht zu geben. Das ist heute nicht mehr so.
Ist Deutschland in den vergangenen 24 Jahren aufmerksamer geworden für Rassismus und rassistische Gewalt?
In den 1990er Jahren war es so, dass keiner drüber reden und keiner etwas tun wollte. Heute ist es ganz klar, dass es überall Projekte gibt, Opferberatungsstellen, Mobile Beratungsteams. Das ist ein großer Fortschritt. Solche Demokratisierungsprozesse finden nicht auf Knopfdruck statt. Dahinter steckt viel Arbeit.
Zur Person
Anetta Kahane ist aufgewachsen in Ost-Berlin und arbeitete als Lateinamerikawissenschaftlerin in der DDR. Die 67-jährige Journalistin war 1990 die erste und einzige Ausländerbeauftragte des Magistrats von Ost-Berlin. 1991 gründete sie die RAA (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie) für die damals neuen Bundesländer, 1998 die Amadeu-Antonio-Stiftung. (pit)
Was hat die Amadeu-Antonio-Stiftung dazu beigetragen?
Die Amadeu-Antonio-Stiftung hat oft eine Pionierfunktion gehabt. Die Stiftung hat bereits 2003 angefangen, sich mit der Frage von Hass und Rechtsextremismus im Internet zu beschäftigen. Damals gab es noch ein großes Stirnrunzeln, was das soll. Später kamen die sozialen Medien, und wir waren präpariert. Oder Verschwörungsideologien: Wir haben über fünf Jahre über Verschwörungstheorien und Rechtsextremismus gearbeitet. Als „QAnon“ oder „Querdenker“ kamen, waren wir vorbereitet. Oder Antisemitismus: Wir haben seit 2003 systematisch dazu gearbeitet. Damals ging es immer um die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und wie man darauf reagiert. Wir haben angefangen zu erklären, wie man damit umgeht, was Antisemitismus für Funktionen hat. Damit gibt es heute eine gesellschaftliche Basis für die Arbeit mit Erwachsenen oder mit Jugendlichen.
In den vergangenen Jahren gab es besonders schlimme Gewalttaten der Naziszene, den Terror von Hanau und von Halle oder den Mord an Walter Lübcke. Hat die Gewalttätigkeit der rechten Szene zugenommen?
Gewalttätig war die Szene schon vor 30 Jahren. Aber das passiert nun nur auf eine andere Weise, von Breivik-Anhängern, von „Lone Wolf“-Typen, von Internet-affinen Tätern.

In den 1990er Jahren wurde Rechtsextremismus vor allem in Ostdeutschland wahrgenommen. Welche Unterschiede sehen Sie heute noch in den Debatten zwischen Ost und West?
In der Gewalttätigkeit nehmen sich beide nicht viel. Was den Alltagsterror betrifft, da sticht Ostdeutschland immer noch hinaus. Eine schwarze Person in Thüringen oder Sachsen zu sein, vor allem wenn man in kleineren Städten wohnt, ist kein Zuckerschlecken. Da hat eine Normalisierung noch nicht stattgefunden. Wenn man von der Angleichung der Lebensbedingungen spricht, wäre es schon schön, wenn sich da etwas tun würde.
Welche Aufgaben kommen auf Ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger zu?
Es wird immer wieder neue Themen geben und neue Gesichter in der rechten Szene. Die Herausforderung für die Stiftung wird sein, sie rechtzeitig zu erkennen und mutig anzugehen. Wir sehen das Negative, und das ist auch richtig, weil es immer wieder einen Impuls gibt, weiterzumachen. Aber wir müssen auch sehen, was sich positiv entwickelt hat. Wir haben heute sehr viel mehr an Minderheitenrechten als vor 25 oder 30 Jahren, von Frauenrechter über LGBTQ-Rechten bis zu Anti-Rassismus-Debatten. Man muss sehen, welche Erfolge über einen längeren Zeitraum sichtbar sind. Wenn man das nicht macht, wertschätzt man weder die eigene Arbeit noch die Anstrengung anderer Leute. (Interview: Pitt von Bebenburg)