Der alltägliche Rassismus - und alle schauen weg

Eine 20-Jährige wird mitten in Groß-Gerau rassistisch beleidigt und gedemütigt. Alle schauen weg. Und die Polizei bedauert ein „kommunikatives Missverständnis“.
- Mitten in Groß-Gerau wird eine 20-Jährige Frau rassistisch beleidigt und angegriffen
- Niemand der umstehenden Menschen greift ein
- Auch von der Polizei fühlt sie sich nicht unterstützt - damit ist sie nicht allein
Groß-Gerau - Es ist nicht so, als sei Maryam H. (Name geändert) noch nie rassistisch beleidigt worden. Menschen haben ihr im Vorbeigehen Beschimpfungen zugemurmelt, sie wegen ihres Kopftuchs angestarrt. Aber noch nie sei es so schlimm gewesen wie an jenem Tag im März, sagt sie. Ausgerechnet in Groß-Gerau, der Stadt, in der sie aufgewachsen ist.
Die 20-Jährige wartet an diesem Nachmittag am Marktplatz auf den Bus in Richtung ihres Elternhauses. An der Haltestelle sitzen ein Mann und eine Frau, die zusammen trinken. Obwohl sie Kopfhörer trägt, hört H., dass der Mann sie anzupöbeln beginnt. „Du Scheiß-Flüchtling!“ und „Geh raus aus meinem Land!“, ruft er zu ihr herüber. Erst habe sie versucht, ihn zu ignorieren, sagt die Studentin. Aber dann habe seine „penetrante Art“ sie gereizt. „Ich habe mich verteidigt, habe ihm gesagt, dass ich hier geboren bin.“
Rassistische Beleidigungen in Groß-Gerau: Niemand greift ein
Doch den Mann interessiert nicht, was sie zu sagen hat. Er schüttet einen Teil seines Getränks auf den Boden, schreit „Trink das!“ und beleidigt Maryam H. wieder, diesmal mit einem frauenfeindlichen Schimpfwort. Als endlich ihr Bus kommt, will sie erleichtert einsteigen, als der Mann sie an der Kapuze packt. „Ich habe ihm gesagt, dass er mich nicht anfassen soll. Und dann ist er richtig ausgerastet.“ Im nächsten Moment kippt er ihr den Inhalt seiner Flasche über den Kopf. Was genau es war, kann H. nicht sagen („Ich kenne mich da nicht aus“), ganz sicher aber weiß sie, dass es sich um Alkohol handelte.
Die anderen Passagiere im Bus greifen nicht ein. Die einzige Person, die von der ganzen Sache Notiz zu nehmen scheint, ist die Bekannte des Angreifers. „Wenn sie ihn nicht gestoppt hätte, weiß ich nicht, was er noch gemacht hätte“, sagt die Studentin. „Nicht einmal der Busfahrer hat etwas getan.“ Immerhin steigt der Mann nicht ein. H. fährt völlig durchnässt nach Hause. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hat, ruft sie bei der Polizei an. „Ich wollte einfach die Situation schildern und fragen, was ich machen soll.“ Doch der Beamte am anderen Ende der Leitung habe kein großes Interesse an ihrer Schilderung gezeigt, sagt sie. „Er hat gleichgültig gewirkt, und einmal habe ich ihn sogar lachen hören.“ Ob sie Anzeige erstatten wolle, müsse sie zwar selbst entscheiden, habe er gesagt. Aber bringen würde es wahrscheinlich nichts. Seine Begründung: „Solche Dinge würden sowieso immer wieder passieren, dagegen könnte man nichts machen.“

„Ich habe mich total hilflos gefühlt“ - Frau aus Groß-Gerau erfährt keine Unterstützung durch die Polizei
H. glaubt, dass es möglich sein könnte, den Täter ausfindig zu machen, schließlich weiß sie die Busnummer und die Uhrzeit, es gab Zeugen, und im Bus habe eine Überwachungskamera gehangen. Doch sie ist verunsichert und erstattet an diesem Tag keine Anzeige. „Ich hab mich total hilflos gefühlt.“ Erst zwei Tage später überredet eine Freundin sie doch noch dazu. H. nutzt dafür ein Onlineformular.
Außerdem verfasst Maryam H. einen langen Brief an den Groß-Gerauer Bürgermeister Erhard Walther (CDU). Es gebe sicherlich wichtigere Fälle als ihren, schreibt sie darin. „Aber heißt das, dass ich in Zukunft solche Situationen einfach ertragen muss, nur weil ich einen Migrationshintergrund habe?“
Das Problem Rassismus ist auch in Groß-Gerau präsent
Betroffenen von rassistischer Gewalt rät Olivia Sarma von der Beratungsstelle Response, nach einer Tat zunächst ein Gedächtnisprotokoll anzufertigen, in dem alle Details von Uhrzeiten bis Orten und im besten Fall auch Kontaktdaten von Zeugen vermerkt sind.
Spezialisierte Beratungsstellen wie Response bieten psychosoziale Unterstützung, begleiten die Menschen aber auch zur Polizei, wenn sie es möchten. Ansonsten verweist auch Sarma auf die Möglichkeit, online Anzeige zu erstatten oder direkt bei der Staatsanwaltschaft einen Strafantrag zu stellen – ohne den Weg über die Polizei.
Deutschland sei auch ihr Land, Hessen und Groß-Gerau ihre Heimat. Das Problem Rassismus, schreibt sie zum Schluss, „ist präsent, es ist real und es existiert, und ich würde mir wünschen, dass man es an der Wurzel packt.“ Auf Nachfrage der Frankfurter Rundschau teilt die Polizei mit, das Verhalten des Beamten sei „intern aufgearbeitet“ worden. Allerdings habe es sich um ein Missverständnis gehandelt. Das Lachen etwa sei der „Unverfrorenheit des Klientels“ geschuldet gewesen, der Polizist habe sich nicht über Maryam H. lustig machen wollen. Zudem teilt die Polizeisprecherin mit, der Beamte habe von der rassistischen Komponente des Übergriffs nichts gewusst. H. dagegen ist sich sicher, im Telefonat den Inhalt der Beleidigungen beschrieben zu haben.
Die Polizeisprecherin schreibt, man bedauere das „kommunikative Missverständnis“: „Unser Anliegen ist es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger stets an ihre Polizei wenden können und ihnen geholfen wird.“
Doch genau dieses Gefühl, das Vertrauen in die Polizei als Freund und Helfer, ist für viele Menschen mit Rassismuserfahrung keineswegs selbstverständlich. Olivia Sarma leitet die hessische Beratungsstelle Response für Betroffene rassistischer Gewalt und wird immer wieder mit Berührungsängsten gegenüber der Polizei konfrontiert. Es gibt Betroffene, die Angst haben, die Polizei zu rufen. Sie fragen: „Und wenn dann da einer steht, der dieselben Ansichten hat wie der Täter?“ Berichte über rechtsextreme Mitarbeiter in Sicherheitsbehörden verschärften das vorhandene Misstrauen noch.
Verharmlosung von Rassismus: Kein Einzelfall bei der Polizei
Und wenn die Betroffenen doch Hilfe bei der Polizei suchten, sei das nicht selten eine schmerzhafte Erfahrung. „Wir hören leider oft, dass die Polizei von einer Anzeige abrät und das Geschehen bagatellisiert.“ Es heiße dann, es sei doch niemand verletzt oder keine richtige Straftat begangen worden. „Das ist total problematisch, denn es signalisiert: Stell dich nicht so an.“
Sarma sagt, aus diesem Grund sei es nachvollziehbar, wenn Betroffene sich wenig von Strafanzeigen erhofften und den Gang zur Polizei mieden. Response biete dafür Beratung und vor allem Begleitung zu den Behörden an*. Denn klar sei: Jede betroffene Person habe ein Recht darauf, dass in ihrem Fall ermittelt wird. Außerdem spreche für eine Anzeige, dass der Übergriff nur dann in die Statistik eingehen könne.
Rassistische Beleidigung in Groß-Gerau - die wenigsten Übergriffe werden gemeldet
Tatsächlich legen sogenannte Dunkelfeldstudien wie der Deutsche Viktimisierungssurvey des Bundeskriminalamts nahe, dass nur ein Bruchteil der rassistisch motivierten Gewalttaten von den Opfern auch gemeldet wird und somit in offiziellen Kriminalitätsstatistiken auftauchen.
Zugleich gibt es Hinweise darauf, dass Opfer von Hasskriminalität schwerere psychische Folgen und ein deutlich geringeres Vertrauen in die Polizei aufweisen als Vergleichsgruppen.
Einige Tage nach der Anfrage der FR bei der Polizei meldet sich der betreffende Beamte aus Groß-Gerau noch einmal bei Maryam H., entschuldigt sich für sein Verhalten und fragt, ob sie das Erlebte habe verarbeiten können. Ihr verschaffte das ein gutes Gefühl: „Ich glaube, wenn so etwas noch mal vorkommen sollte, werden sie die Sache viel ernster nehmen.“
Von Alicia Lindhoff
Nach dem rassistischen Anschlag in Hanau haben sich viele Migrantinnen und Migranten in einem breiten Bündnis zusammen gefunden. Sie fordern mehr Aufmerksamkeit für die Gefahren durch Rassismus und Rechtsextremismus.
In Frankfurt wird ein Theaterensemble bei Proben rassistisch attackiert.
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