1. Startseite
  2. Rhein-Main

Kinder- und Jugendhilfe in Not: „In einem Fall rief das Jugendamt mehr als 100 Einrichtungen an“

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Gregor Haschnik

Kommentare

„In einem besonders gravierenden Fall, der mir bekannt ist, rief das Jugendamt bei mehr als 100 Einrichtungen an, um einen Platz für das Kind zu bekommen.“
„In einem besonders gravierenden Fall, der mir bekannt ist, rief das Jugendamt bei mehr als 100 Einrichtungen an, um einen Platz für das Kind zu bekommen.“ © Arno Burgi/dpa

Der scheidende Hanauer Sozialdezernent und Vorsitzende des Sozialausschusses des Hessischen Städtetags, Axel Weiss-Thiel (SPD), spricht im FR-Interview über Platz- und Personalnot in der Kinder- und Jugendhilfe.

Axel Weiss-Thiel (SPD) hat kürzlich seinen letzten Arbeitstag gehabt und nach freien Tagen seinen Dienst am heutigen Montag beendet. Zuvor war er 16 Jahre Sozialdezernent in Hanau und Vorsitzender des Sozialausschusses des Hessischen Städtetags. Er kennt die Entwicklung in den Jugendämtern und Einrichtungen für Inobhutnahmen gut. Zur Ruhe wird er sich nicht setzen, sondern weiter im sozialen Bereich aktiv sein, etwa im Vorstand des Vereins „Sprungbrett“ für Familien- und Jugendhilfe.

Herr Weiss-Thiel, eine ganze Reihe hessischer Jugendämter hat bei den Inobhutnahmen einen Anstieg registriert und von zunehmenden Problemen beim Unterbringen von Kindern in Nothilfeeinrichtungen berichtet. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Sie ist tatsächlich sehr angespannt, sowohl in den Ämtern, wo die Mitarbeitenden als Wächter:innen fungieren, als auch bei den freien Trägern der Jugendhilfe, die die Betreuung übernehmen. In einem besonders gravierenden Fall, der mir bekannt ist, rief das Jugendamt bei mehr als 100 Einrichtungen an, um einen Platz für das Kind zu bekommen. Das Ergebnis war ein Platz auf der Warteliste. Solche Schwierigkeiten gibt es häufiger, wenn auch nicht in dieser Dimension. Der Aufwand, der bei der Suche nach Plätzen betrieben werden muss, ist enorm.

Der scheidende Hanauer Sozialdezernent und Vorsitzende des Sozialausschusses des Hessischen Städtetags, Axel Weiss-Thiel (SPD).
Der scheidende Hanauer Sozialdezernent und Vorsitzende des Sozialausschusses des Hessischen Städtetags, Axel Weiss-Thiel (SPD). © SPD

Worin liegen die Ursachen?

Die Zahl der „regulären“ Fälle hat zuletzt zugenommen und in etwa das Vor-Corona-Niveau erreicht. Im Gegensatz zur Hochphase der Pandemie, als Kitas, Schulen und andere Einrichtungen geschlossen waren, wird Kindeswohlgefährdung wieder häufiger erkannt, geschieht nicht so häufig im Verborgenen. Es kommen mehr Meldungen, die intensiv geprüft werden müssen. Aufgrund vielfältiger Problemlagen ist das Konflikt- und Gewaltpotenzial in Familien tendenziell größer geworden. Außerdem ist bei den sogenannten unbegleiteten minderjährigen Ausländer:innen (UMA), die geflüchtet sind und in Obhut genommen werden müssen, ein spürbarer Anstieg zu beobachten – ebenso wie bei Fällen mit besonderen Herausforderungen.

Worin bestehen diese?

Es geht dabei vor allem um Kinder, die psychische und kognitive Probleme haben. Sie brauchen eine spezielle Betreuung. Es gibt jedoch nicht so viele Einrichtungen, die das bieten können. Darüber hinaus mangelt es in Jugendämtern, aber auch in Nothilfe- und Anschlusseinrichtungen an Fachkräften. Das führt dazu, dass Fälle nicht so schnell bearbeitet und nicht so viele Plätze angeboten werden können. Weil auch Personal für betreute Wohngruppen fehlt, steigt die Verweildauer bei Inobhutnahmen ebenfalls.

Zur Person

Axel Weiss-Thiel (SPD) ist Diplom-Volkswirt. Nach Stationen etwa als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität und Referent des SPD-Landesverbands wurde er 2007 Sozialdezernent in Hanau. Seit 2017 ist er auch Bürgermeister. Am heutigen Montag hört der 62-Jährige auf. Im Zuge eines von der SPD angestrebten Generationswechsels übernimmt Parteikollege Maximilian Bieri die Ämter. gha

Wie hat sich die Zahl der Inobhutnahmen in Hanau entwickelt?

In den Jahren 2020 und 2021 hatten wir jeweils 61 „reguläre“ Inobhutnahmen, im vergangenen Jahr 69. Bei den minderjährigen Ausländer:innen stieg die Zahl von 10 im Jahr 2020, über 15 im Jahr 2021 auf zuletzt 32.

Welche Unterstützung bräuchten die Kommunen und die Jugendhilfeeinrichtungen?

Wir brauchen eine größere Flexibilität etwa bei der Qualifikation und dem Personalschlüssel sowie weniger Bürokratie. Muss es zum Beispiel eine Sozialpädagogin oder ein Sozialpädagoge sein oder kann es auch eine Lehrkraft sein? Angesichts des Fachkräftemangels, der aufgrund des demografischen Wandels weiter zunehmen wird, müssen wir solche Fragen diskutieren und darüber, was wir im Sozialen leisten können. Es braucht eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen, um mehr Beschäftigte zu gewinnen und sie zu halten. Die Fluktuation ist hoch. Auch deshalb muss der soziale Bereich von Bund und Land besser finanziert werden. In den Rathäusern kann kein Geld gedruckt werden.

Was sollte Ihrer Ansicht nach noch verändert werden?

Wir müssen in diesen Zeiten, die etwa von Kriegen und Fluchtbewegungen geprägt sind, stärker in Krisenstrukturen denken und diese etablieren. Wichtig ist, bestimmte Kapazitäten, etwa für die Aufnahme von Geflüchteten, vorzuhalten – auch wenn sie vielleicht ein Jahr lang nicht in vollem Umfang gebraucht werden. Das kostet Geld, zahlt sich aber für alle Beteiligten aus.

Interview: Gregor Haschnik

Auch interessant

Kommentare