Jans Schreie

Vor 30 Jahren starb der vierjährige Jan H., der in einer Sekte in Hanau aufwuchs. Ein Aussteiger, der damals vor Ort war, äußert sich erstmals öffentlich zu dem Geschehen.
Dass Gott den vierjährigen Jan H. „geholt“ habe, sei besser so. Der Junge sei vom Bösen, von der „schwarzen Kerze“ und „den Dunklen“ besessen gewesen – und es habe keine Aussicht auf Besserung bestanden.
Das soll Sektenführerin Sylvia D. kurz nach Jans Tod zu Anhängern gesagt haben. So schildert es ein Aussteiger, der sich erstmals öffentlich zu den Todesumständen äußert. Nachdem er sich aus sehr persönlichen Gründen zurückhielt, wolle er nun zur Aufklärung beitragen. Er war am 17. August 1988 in dem Haus, in dem Jan H. starb, und macht jetzt eine Reihe neuer, detaillierter Angaben, die er an Eides statt versichert hat. Er könnte ein wichtiger Zeuge werden.
Vor fast einem Jahr hat die Staatsanwaltschaft Hanau Mordanklage gegen Sylvia D., geborene F., erhoben. Jan H.s Eltern, die nach wie vor in der Glaubensgruppe sind, gaben ihn an jenem Tag wieder in die Obhut von D. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt: Sie habe das in einen Leinensack eingeschnürte Kind, das ins Bad zum Schlafen gelegt worden sei, seinem Schicksal überlassen – obwohl sie seine Schreie gehört habe. Die heute 71-Jährige habe ihn grausam und aus niedrigen Beweggründen getötet, weil sie Jan H. als Reinkarnation Hitlers angesehen habe.
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Die Vorwürfe hat der Verteidiger von D. in früheren Stellungnahmen zurückgewiesen, es gebe dafür keine objektiven Anhaltspunkte. Auch weitere „Behauptungen“, etwa angebliche Gewalt oder Drohungen, seien unzutreffend. Seine Mandantin sei Opfer einer Rufmordkampagne. Aktuelle Anfragen beantwortete er bislang nicht.
Nach wie vor gilt die Unschuldsvermutung. Der Fall befindet sich im Zwischenverfahren, in dem das Landgericht die Anklage prüft und entscheidet, ob es zum Prozess kommt oder nicht.
Was am 17.8.1988 passiert sei, habe sich in sein Gedächtnis eingebrannt, verfolge ihn bis heute, sagt der Informant: Demnach war Jan im Bad, gegenüber vom Waschbeckenbereich, auf einer Matratze schlafen gelegt worden, in einen Sack, der über dem Kopf verschnürt worden sei. Der Junge habe heftig geweint und geschrien. D. habe dies mitbekommen müssen, weil sie sich zwischen Schlaf- und Wohnzimmer bewegt habe, ganz in der Nähe des Bades. Sie habe ihn schreien lassen. Die damals 41-Jährige war offenbar als einzige Erwachsene zu Hause, Jans Eltern und Sylvia D.s Ehemann waren einkaufen. Nach Darstellung des Aussteigers war es ungewöhnlich, dass D. gleich mit zwei Anhängern einkaufen ging. Er selbst ging zwischenzeitlich runter in Richtung Flur und dann, wie von Sylvia D. befohlen, wieder hoch in ein Zimmer. Dort habe er noch gehört, wie unten eine Tür aufging. Etwas später hätten die Schreie aufgehört.
Nachdem Sylvia D.s Mann und Jans Eltern vom Einkaufen zurückgekehrt waren, sei die Mutter des Jungen ins Bad gegangen und habe kurz darauf geschrien, dass Jan nicht mehr atme. Was folgte, beobachtete der Informant von der Treppe aus: Der Ehemann der Anführerin ließ demnach die Einkaufstüten fallen, holte den Jungen aus dem Bad und versuchte auf dem Teppich im Flur intensiv ihn wiederzubeleben. Während Jans Mutter hinter ihm stand, holte er erbrochenen Brei aus Mund und Hals des Vierjährigen, machte Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage. Doch Jan H. rührte sich nicht mehr. Den Geruch des Erbrochenen werde er „nie vergessen“, sagt der Aussteiger.
Der 2017 verstorbene Ehemann von D. hatte 2015 erklärt, er habe „lange und ununterbrochen“ versucht H. wiederzubeleben. Den Vorwurf, es sei etwas manipuliert worden, dass es wie ein Unfall aussehe, wies er zurück. Ebenso den Sektenvorwurf.
Bevor der Notarzt eintraf, habe der Informant zurück ins Zimmer gehen und auch dort bleiben sollen, als die Polizei kam, erinnert er sich. Er habe aber noch mitbekommen, wie der Leinensack sowie Tücher und Erbrochenes in einen blauen Müllsack geworfen wurden, den er danach nie wieder gesehen habe. Sylvia D. sei daran beteiligt gewesen.
Eine Anfrage der FR zu den Angaben des neuen Informanten beantwortet die Staatsanwaltschaft nicht. „Vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung“ bitte die Behörde um Verständnis, dass sie im Zwischenverfahren keine Angaben zur Sache machen könne. Der Informant möge sich als Zeuge für das Verfahren zur Verfügung stellen.
Er bestätigt Angaben anderer früherer Anhänger, auch zu D.s Umgang mit Jan: Sie habe ihn dämonisiert und gequält, als Wiedergeburt Hitlers bezeichnet und zum Essen gezwungen. So soll D. ihm Löffel mit Brei in den Mund gestopft und – wenn er nicht schluckte – die Wangen zusammengedrückt und den Mund zugehalten haben. Immer wieder habe sie ihm schreiend Vorträge gehalten, die ihn angeblich bekehren sollten. Oft habe der „massiv eingeschüchterte“ Junge regungslos gekauert, viel geschrien, aber kaum gesprochen. Sie müsse dies tun, weil er böse sei und um noch viel Schlimmeres abzuwenden, habe D. gesagt.
Monate vor Jans Tod soll sie angekündigt haben, dass Kinder von Gott geholt werden könnten. Sie gehörten Gott, nicht den Eltern. Er bestimme, wen er hole. Nach Jans Tod habe D. viele Gesprächssitzungen mit Jans Mutter und Vater abgehalten. Ihm habe man nur gesagt, der Junge sei an seinem eigenen Erbrochenem erstickt, so der Informant. Später sei mit ihm kaum noch darüber geredet worden, „als ob es nie stattgefunden hätte“.
Die Gruppe sei ein totalitäres System gewesen, mit einem immensen Druck, alles zu befolgen. D. habe eine totale Kontrolle ausgeübt. Wer nicht folgte, dem habe sie Krebs oder einen Unfall angedroht, was tiefe Ängste auslöste. Als sich der Informant Anfang der 1990er Jahre überwand und dem Jugendamt von den Missständen und von Jans Tod berichtete, das Amt aber keine Konsequenzen zog, habe er einmal mehr Angst gehabt, dass D. alles kontrolliere.
Die Mutter von Jan H. entgegnet auf eine Anfrage der FR: Die Fragen beträfen Einzelheiten, die Gegenstand eines Verfahrens sind und gegebenenfalls in diesem Rahmen geklärt werden müssen. Sie komme als Zeugin in Betracht und möchte aus Respekt vor dem Gericht diesem nicht durch Aussagen außerhalb einer möglichen Verhandlung vorgreifen. Bei einer Vernehmung 2015 sollen sie, ihr Mann sowie die D.s von einem großen Sack und einem Unfall gesprochen haben.
Vor Jans Tod wurde der Schlafsack nur über der Schulter verschnürt, erinnert sich der Aussteiger. Da der Junge sich im Bad aber daraus befreite, Cremedosen öffnete und schrie, sei er schließlich komplett eingeschnürt worden. Das Schreien habe dann leicht gedämpft geklungen, auch am 17. August 1988. Wenn er nicht aufhörte zu weinen, habe Sylvia D. ihm auf Kopf und Oberkörper geschlagen, auch durch den Sack. Andere Kinder seien in der Gruppe ebenfalls misshandelt worden, etwa indem sie nachts aus dem Schlaf gerissen, angeschrien und geprügelt worden seien. Auch deshalb habe niemand gewagt, Widerstand zu leisten.
In dem Sommer, in dem Jan starb, habe er in dem Sack stark geschwitzt. Als er rausgeholt wurde, sei er total nass gewesen, habe gezittert, tief durchgeatmet. Sein Gesicht sei rot und aufgequollen gewesen. Den damaligen Hinweis des Informanten, dass es Jan schlecht gehe, habe Sylvia D. damit abgetan, dies sei nur Show. Er solle sich um seine eigenen Sachen kümmern.
Eine Aussteigerin sah im Bad der D.s eines Tages ein „komplett verschnürtes Bündel“, das sich leicht hob und senkte. Darin sei Jan H. gewesen. Der Informant beschreibt den Leinensack als cremeweiß, nur wenig größer als Jan, nur etwa 50 Zentimeter breit. Man könne sich kaum vorstellen, wie er dort „nach Luft rang und welche Panik er verspürte“.