Der Steuermann

Karl Nöll war 35 Jahre lang Fahrer der Landräte. Nun geht er in den Ruhestand.
Karl Nöll blickt auf 1,5 Millionen Kilometer zurück. 1,5 Millionen Kilometer, das wäre umgerechnet etwa 37 Mal um die Welt. Das alles im Auftrag des Landrats, denn Karl Nöll war fast 35 Jahre lang der Fahrer des jeweils amtierenden Landrats. Nun geht er in den Ruhestand, aber er möchte keinen Kilometer missen.
Drei Landräten stand er in seiner Dienstzeit als Fahrer zur Verfügung, seine Touren führten ihn in fast alle Regionen Deutschland und in benachbarte Länder. Er war stets der treue Begleiter der politische Funktionäre, auch Kreisbeigeordnete hat er in den ersten Jahren chauffiert.
Auf einmal war er in Ungarn. Karl Nöll muss immer noch lachen, wenn er an diese Geschichte denkt. Landrat Jürgen Banzer weilte in Gießen auf einer Konferenz zum Thema Müll, doch noch am gleichen Tag sollte ein Tross des Hochtaunuskreises nach Ungarn aufbrechen. Schon früh war klar, dass Banzer es nicht zur Abfahrtszeit des Busses in Bad Homburg schaffen würde. „Kein Problem, dafür gab es ja mich“, erinnert sich Nöll. Also fuhr er nach Beendigung der Konferenz in Gießen los, Banzer auf der Rückbank, dem Bus hinterher. Vereinbart war, dass Banzer so schnell wie möglich auf einem Rasthof in den Bus zusteigen sollte. Doch es kam, wie es kommen musste, „wir gerieten in einen Stau“, so Nöll. Das Ende vom Lied: Banzer stieg dem Bus tatsächlich noch zu – direkt vor dem Hotel in Ungarn. 900 Kilometer hatte Karl Nöll zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich, und genau diese 900 Kilometer fuhr er auch umgehend wieder zurück. Banzer nahm einige Tage später mit seinen Kollegen den Bus.
Karl Nöll hat Jürgen Banzer bis nach Ungarn gefahren, und musste alleine zurück
Was für manche Menschen einer Tortur gleichkommt, hat Karl Nöll einfach nur Spaß gemacht. „Ich fahre einfach gerne Auto“, sagt der 64-Jährige. Diese Leidenschaft hat den gelernten Kfz-Mechaniker schon zu seinem vorherigen Beruf als Lkw-Fahrer gebracht. Doch dann ging es seinem damaligen Unternehmen nicht gut, er wurde auf die Stelle im Fuhrpark des Landratsamtes aufmerksam, bewarb sich und bekam den Job. Seine Ausbildung kam ihm da zu Gute, denn neben den Tätigkeiten als Fahrer gab es noch mehr zu tun. „Wir mussten uns eben um den gesamten Fuhrpark kümmern“, erzählt Nöll. Reparaturen, Wartung, Inspektion, „auch waschen mussten wir die Fahrzeuge.“ Etwa 18 Autos waren das damals, heute sind es 30.
Doch im Mittelpunkt stand natürlich das Fahren. War Nöll zunächst nur vertretungsweise im Einsatz, wurde er recht schnell zum festen Fahrer von Peter Barkey, Zweiter Beigeordneter des Kreises. Ab und zu fuhr er auch Landrat Henning von Storch zu Terminen. Nach drei Jahren wechselte er dann ans Steuer Landrat Peter Jürgens, es folgten noch Jürgen Banzer – vierzehneinhalb Jahre – und in den vergangenen siebeneinhalb Jahren Ulrich Krebs. Rückblickend sagt Karl Nöll über alle Landräte: „Die Chemie im Auto hat einfach gestimmt.“
Er fuhr die Landräte in den Nationalpark Triglav
Notwendig war dazu ein hohes Maß an Vertrauen, das die Politiker ihm gegenüber aufbringen mussten. Er bekam schließlich alles mit, jedes private Telefonat, jedes dienstliche Gespräche, jede mögliche persönliche Schwäche. Doch dieses Vertrauen war immer schnell gefasst. „Mit Landrat Krebs habe ich mich geduzt, Jürgen Banzer hat mich immer als ‚Kollegen‘ bezeichnet“, so Nöll.
Am liebsten hat er die Landräte nach Slowenien begleitet. Den Naturpark Hochtaunus verbindet seit Jahren eine Partnerschaft mit dem Nationalpark Triglav im Nordwesten Sloweniens. Insgesamt sieben Mal war Nöll als Fahrer vor Ort, ein Bild des Parks hängt im Aufenthaltsraum der Fahrer. Ebenfalls dort zu finden: Eine Landkarte mit Stecknadel. Jede Nadel für ein angesteuertes Ziel. Karl Nöll kann zu jeder Nadel die passende Geschichte erzählen. Deutscher Landkreistag in Uckermünde, Schulbesuche in Belgien, Versammlungen des Landeswohlfahrtsverbandes in Schleswig-Holstein oder Bayern.
Nach Bayern zieht es ihn im Sommer auch. „Wandern im Allgäu“, freut er sich auf seinen Ruhestand. Dann hat er auch Zeit für seinen Garten, seine vier Enkel und seine Frau. „Die musste auf so viel verzichten in den 35 Jahren“, sagt Karl Nöll. Wie die beiden nach Bayern kommen? Mit dem Auto natürlich.