1. Startseite
  2. Rhein-Main

Hessen: Verrohung trifft Politik und Verwaltung

Erstellt:

Von: Gregor Haschnik

Kommentare

Auch bei Protesten der sogenannten Querdenken-Bewegung sind Politiker:innen häufig verunglimpft worden.
Auch bei Protesten der sogenannten Querdenken-Bewegung sind Politiker:innen häufig verunglimpft worden. Imago © Imago

Statistiken zeigen viele Fälle von Gewalt gegen Amtsträger:innen. Die Corona-Pandemie hat viele Konflikte verschärft. So lautet eines der ersten Zwischenergebnissen einer neuen Studie.

Immer wieder werden Politiker:innen und andere Amtsträger:innen Opfer von Attacken. Allein im Jahr 2022 wurden in Hessen 253 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Straftat nach Paragraf 188 des Strafgesetzbuches eingeleitet. Dieser wurde 2021 neu gefasst. Er ahndet die Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung von Personen des politischen Lebens – und schließt Kommunalpolitiker:innen ein, die häufig unmittelbarer gefährdet und weniger geschützt sind als etwa Bundespolitiker:innen. Bislang endeten 16 der Verfahren mit einer Anklage oder einem Strafbefehl, 42 wurden eingestellt.

Die Zahlen gehen aus der Antwort von Hessens Justizminister Roman Poseck (CDU) auf eine kleine Landtagsanfrage der Abgeordneten Jörg-Uwe Hahn, Thomas Schäfer (beide FDP) sowie Christoph Degen (SPD) hervor. Erfasst werden lediglich Ermittlungen, bei denen ein Verstoß gegen Paragraf 188 das „führende Delikt“ ist und kein nachrangiges. Anlass für die Anfrage war ein verbaler Angriff auf Nidderaus Bürgermeister Andreas Bär (SPD). Ein Mann, offenbar ein Coronaleugner, beleidigte Bär unter anderem als „Kinderschänder“ – da Sternsinger:innen im Rathaus Masken trugen (siehe Interview).

Auf hohes Konfliktpotenzial deuten auch Zahlen zu Ermittlungsverfahren wegen Widerstands oder tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamt:innen und ihnen gleichgestellte Personen, etwa Rettungskräfte und Feuerwehrleute. Laut Justizministerium sind bei den hessischen Staatsanwaltschaften 2020 2084 Verfahren wegen dieser Taten eingeleitet worden, 2022 waren es 2233. Die Zahl der Anklagen in dem Zeitraum stieg von 593 auf 695, jene der verhängten Freiheitsstrafen von 133 auf 139.

Inwiefern dieser Anstieg mit der Corona-Pandemie und der angekündigten, konsequenteren Bestrafung solcher Fälle zusammenhängt, ist noch unklar.

Mehrere Studien haben in den vergangenen Jahren vor einer Verrohung gewarnt, so wie jene der Universität Gießen mit dem Titel „Gewalt gegen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Hessen“ aus dem Jahr 2021. Sie weist auf zahlreiche Gewalt- und Aggressionserfahrungen unter Amtsträger:innen hin.

Eine neue, qualitativ angelegte Untersuchung geht in die Tiefe. Nora Zado, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Demokratiezentrum Hessen an der Universität Marburg, hat neun Bürgermeisterinnen und elf Bürgermeister aus elf hessischen Landkreisen intensiv befragt und sich dabei den Themengebieten öffentliche Kommunikation, Konflikte, Beleidigungen und Bedrohungen sowie Prävention gewidmet.

Erste Zwischenergebnisse der Studie, die in Kooperation mit dem Verband der kommunalen Wahlbeamten in Hessen entstand und voraussichtlich Ende 2023 veröffentlicht wird, liegen der Frankfurter Rundschau exklusiv vor. Demnach haben sich viele Konflikte durch Corona zugespitzt. Das betreffe sowohl „politische Bewegungen im Zusammenhang mit Corona“ als auch Nachbarschaftsstreitigkeiten, die nicht nur untereinander, sondern zum Teil auch über die Kommune ausgetragen würden.

Ein weiteres markantes, vorläufiges Ergebnis sind Anfeindungen von Mitarbeitenden durch unzufriedene Bürger:innen. Die meisten Befragten gaben an, „sich Sorgen um Mitarbeiter:nnen der Verwaltung, das persönliche Umfeld und die Familie zu machen“, erklärt Zado. Grundsätzlich gebe es Themen, bei denen es vergleichsweise häufiger zu Konflikten kommt, beispielsweise Kindertagesstätten und Kinderbetreuung, Stadtplanung und Verkehr. Zum Teil würden Konflikte durch die Komplexität politischer und bürokratischer Prozesse befördert, durch unklare Zuständigkeiten und mangelnde Transparenz. Zum Teil durch eine geringere Bereitschaft zum Kompromiss und eine ausgeprägte Erwartungshaltung an Stadt und Verwaltung. Gleichzeitig fehle es mitunter an Anerkennung für die Leistungen von Kommunalpolitiker:innen und Verwaltungsangestellten.

Im Hinblick auf die Prävention hätten die Bürgermeister:innen „Transparenz, ein hohes Maß an Respekt und Toleranz gegenüber anderen, Empathie und eine ausgeprägte Sachlichkeit“ sowie das Hinterfragen der Anfeindungen als hilfreich empfunden – ebenso wie den Austausch mit Verwaltungschef:innen aus den umliegenden Kommunen.

Das Lösen „normaler“ Konflikte sei Teil des Amtes als Bürgermeister:in – sie könnten jedoch ausarten. Beleidigungen und Bedrohungen gingen in erster Linie von Bürger:innen und anderen Politiker:innen oder politischen, teils auswärtigen Gruppierungen aus. Dazu gehörten unter anderem Hasskommentare und Drohschreiben von sogenannten Reichsbürgern.

Auch interessant

Kommentare