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Hessen: Mehr Kinder brauchen Schutz

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Von: Gregor Haschnik

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Betroffene können zum Beispiel im Darmstädter Geschwisterhaus Schutz finden.
Betroffene können zum Beispiel im Darmstädter Geschwisterhaus Schutz finden. Renate Hoyer © Renate Hoyer

Nach einem Rückgang steigt die Zahl der Inobhutnahmen wieder. In den Nothilfe-Einrichtungen herrscht großer Platzmangel.

Die Jugendämter in Hessen haben im Jahr 2021 insgesamt 3340 Kinder und Jugendliche in behördliche Obhut genommen, etwa weil diese in ihren Familien misshandelt wurden. Gegenüber den Vorjahren ist die Zahl etwas zurückgegangen: 2020 wurden 3417 entsprechende Eingriffe gezählt, 2019 waren es 3596. Das geht aus der Antwort von Sozialminister Kai Klose (Grüne) auf eine kleine Anfrage der Landtagsabgeordneten Lisa Gnadl und Nadine Gersberg (beide SPD) hervor. Die Statistik bezieht sich auf „reguläre Inobhutnahmen“; jene von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sind darin nicht enthalten.

Zahlen für 2022 nennt das Ministerium nicht, doch Rückmeldungen aus Städten und Landkreisen zeigen einen erheblichen Anstieg im Vergleich zu 2021. In der Stadt Offenbach zum Beispiel um 44 Prozent auf 157 Fälle, im Kreis Darmstadt-Dieburg um 22 Prozent auf 226. Und Gießen rechnete kürzlich mit 64 Fällen nach 57 im Vorjahr.

Außerdem nimmt die Verweildauer bei den Inobhutnahmen offenbar zu, wie bereits die hessenweite Entwicklung von 2018 bis 2021 andeutet. Die durchschnittliche Dauer erhöhte sich von 53 Tagen auf 57,2 Tage.

Aus Jugendämtern ist zu hören, dass es immer schwieriger werde, gefährdete Kinder unterzubringen. Die Plätze in den dafür vorgesehenen Nothilfeeinrichtungen reichten bei weitem nicht aus, weshalb auch in anderen Bundesländern angefragt werde. Die Aufenthaltsdauer nach kurzfristigen Aufnahmen sei 2022 weiter gestiegen, teilweise auf ein halbes Jahr – auch weil Plätze in Heimen und Pflegefamilien fehlten.

Uli Ratmann leitet den stationären Bereich im Albert-Schweizer-Kinderdorf (ASK) Hessen mit Sitz in Hanau. Im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau bestätigt er die gestiegene Nachfrage bei Inobhutnahmen: „Wir haben viele, viele Anfragen.“ Diese kämen beispielsweise auch aus dem Raum Fulda oder von noch weiter her. Die Jugendämter seien in großer Not, fänden kaum Plätze.

Die Maßnahme

Eine Inobhutnahme ist – so ist es gesetzlich vorgeschrieben – eine vorläufige, auf kurze Zeit angelegte Schutzmaßnahme für Kinder und Jugendliche, die vernachlässigt oder misshandelt worden sein sollen.

Sobald wie möglich soll die Situation der Betroffenen geklärt und entschieden werden, ob sie aus einer Nothilfeeinrichtung zurück zu ihrer Familie, in eine Pflegefamilie oder eine auf längere Zeit ausgelegte Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung kommen. gha

Ein wesentlicher Grund für die tendenziell längere Verweildauer sei der Personalmangel in Anschlusseinrichtungen. Manche mussten deshalb sogar schließen. Weitere Ursachen seien komplizierte Verfahren und überlastete Familiengerichte. Das ASK hat auf den Bedarf reagiert und zusätzlich zu den neun Plätzen in Hanau vor drei Jahren weitere neun in Hammersbach geschaffen. Kürzlich kamen in Wetzlar neun hinzu. Alle sind belegt, die Zahl der Anfragen liegt weit höher. Nach Ratmanns Worten werden sie tagesaktuell abgearbeitet. In der Regel muss schnell gehandelt werden.

Zu den Gründen für die vielen Inobhutnahmen zählt er die Corona-Pandemie. Viele Konflikte seien erst später offen zutage getreten, etwa weil Betroffene weniger Möglichkeiten hatten, sich an jemanden zu wenden. Jetzt gebe es einen gewissen „Nachholeffekt“. Darüber hinaus bröckele das soziale Gefüge. Familien und Kinder seien weniger vernetzt, häufig fehle eine Verwandtschaft, die regulierend eingreifen könne. Gleichzeitig stünden viele Eltern unter enormem Druck, aufgrund der Inflation nicht zuletzt wirtschaftlich. „Das wirkt sich auf die Familiendynamik aus.“ Es wäre wichtig, viel früher einzugreifen, „bevor das Kind ganz in den Brunnen gefallen ist“. Ratmann plädiert unter anderem für eine deutlich bessere Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe und eine spürbar höhere Bezahlung der Beschäftigten, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

Nadine Gersberg sagte der FR, das Land müsse die Kommunen finanziell so aufstellen, „dass nötige Erziehungshilfen in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen und schon niedrigschwellig mit Eltern gearbeitet werden kann“. Insbesondere die Jugendämter müssten mit genug Personal ausgestattet werden. Zudem bräuchten Pflegefamilien mehr Unterstützung und Vorbereitung. Notwendig sei ein „Pflegefamilienprogramm“ in allen Städten und Kreisen.

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