Frankfurt liest ein Buch: Eine Sache des Überlebens
Frankfurt liest ein Buch /Irmgard Keun „Sie hat die eine oder andere Nebelkerze gezündet“
Es war ein zerrissenes Leben, das Irmgard Keun zwangsläufig geführt hat. Geboren in Berlin-Charlottenburg, aufgewachsen in Köln, versuchte sie sich zunächst als Stenotypistin, dann als Schauspielerin. Doch das Schreiben scheint ihr mehr zu liegen. 1931 kehrt sie für zwei Jahre nach Berlin zurück und wird dort durch ihre beiden Romane „Gilgi, eine von uns“ (1931) und „Das kunstseidene Mädchen“ (1932) zum neuen Stern am Berliner Literaturhimmel. Im Frühsommer 1933 lernt die frisch verheiratete Keun den jüdischen Arzt Arnold Strauss kennen und lieben. Als dieser wenig später seine Anstellung an der Charité verliert und in die USA emigriert, bekommt Keun zum ersten Mal die ablehnende Wucht des Nationalsozialismus zu spüren. Auch die junge Schriftstellerin verlässt kurz darauf Berlin.
Es sind diese intensiven zwei Jahre in Berlin, mit denen sich der Autor und Stadtführer Michael Bienert besonders befasst hat. Zuvor hat er bereits Bücher über die literarischen Berliner Schauplätze von Schriftstellern wie Alfred Döblin, Erich Kästner oder Joseph Roth verfasst. Nun soll mal eine Frau dran sein. Während der Zeit seiner Recherche bekommt er 2019 Keuns „Nach Mitternacht“ geschenkt, was er noch gar nicht kannte. „Es ist ein grandioses Buch, ich halte es für ihr bestes“, findet Bienert und war von Irmgard Keun fortan so angetan, dass er nicht nur ein Buch über Keuns literarische Schauplätze in Berlin schreibt, sondern auch noch ihre Briefe aus den Jahren 1935 bis 1948 sichtet und herausgibt und sich damit zum Keun-Experten aufschwingt.
Man muss allerdings kein Experte sein, um zu verstehen, warum Keuns Leben spätestens ab 1935 aus den Fugen gerät. Da ihre beiden Romane bei den Nazis unerwünscht sind, wird ihr die Aufnahme in die Reichsschriftkammer verwehrt, was quasi einem Berufsverbot gleichkommt. Auf der Suche nach Arbeit landet sie im November 1935 in Frankfurt, wo sich die renommierte „Frankfurter Zeitung“ für sie einsetzen will, um ihre 15-teilige Serie mit Kindergeschichten in der Frankfurter Illustrierten drucken zu können. Auch ihr 23 Jahre älterer Ehemann Johannes Tralow ist zu dieser Zeit in Frankfurt am dortigen Neuen Theater als Regisseur tätig. Keun lernte ihren Mann in der Schauspielschule kennen und heiratet ihn 1932. Es ist nicht die ganz große Liebe. Die Ehe wird 1937 vom Landgericht Frankfurt geschieden. Nach der Veröffentlichung von „Nach Mitternacht“ im Amsterdamer Querido-Verlag bleibt Tralow kaum etwas anderes übrig, als sich von seiner Frau loszusagen, wenn er nicht selbst in Gefahr geraten will.
Das Literaturfest
Nie war sie so wichtig wie heute, die Website von „Frankfurt liest ein Buch“. Denn in Zeiten wie diesen haben sich für das Literaturfest vom 2. bis 15. Mai Änderungen bezüglich Orten und Uhrzeiten ergeben. „Einige Veranstaltungen sind auch schon ausverkauft.“ Mit-Organisator Lothar Ruske empfiehlt deshalb einen Blick auf die Website.
Für einige Veranstaltungen gibt es auch etwas überraschend noch Tickets, etwa für eine musikalisch-literarische Soirée in der Oper am 5. Mai (19 Uhr). „Lebenswege, die ins Exil führten“ lautet das Motto der Veranstaltung, bei der Schauspieler Peter Schröder liest und von Mitgliedern des Frankfurter Opern und Museumsorchesters musikalisch begleitet wird.
Auch für die zeitgleiche Veranstaltung der Frankfurter Rundschau am 5. Mai (19 Uhr) gibt es noch Tickets. Der Schauspieler Wolfgang Vogler hat sich gleich auf mehreren Ebenen intensiv mit Irmgard Keuns „Nach Mitternacht“ beschäftigt. Zum einen, weil er in den Aufführungen des Bühnenstücks am Frankfurter Schauspiel gleich drei Rollen spielt (Algin, Gerti, teilweise Sanna). Zum anderen aber auch, weil er von dem Buch ernstlich begeistert war. „Ich war erstaunt, ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand einen Roman so montiert und mit solchem Tempo schreibt.“
In der Veranstaltung der Frankfurter Rundschau im Haus am Dom wird Vogler seine drei Lieblingspassagen aus dem Buch lesen und Auskunft darüber geben, wie er sich in die Figuren hineindenken konnte und warum er ein Fan von Irmgard Keun geworden ist.
Schon deutlich früher mit Irmgard Keun befasst hat sich Desirée Nosbusch. Als 16-Jährige spielte sie 1981 die „Sanna“ in „Nach Mitternacht“. 41 Jahre später liest sie anlässlich der Abschlussveranstaltung des Literaturfests am 15. Mai (13 Uhr) in der Alten Oper aus Keuns Werk. Nosbusch sollte ursprünglich am 15. Mai zu Dreharbeiten im Ausland weilen und hat kurzfristig für Frankfurt zugesagt. Auch dies eine Änderung. Es lohnt sich also, auf die Website zu schauen. frankfurt-liest-ein-buch.de/programm
Als Keun trotz aller Bemühungen der „Frankfurter Zeitung“ keinen Segen der Nazidiktatur erhält, emigriert sie in Begleitung ihrer Mutter nach Ostende. Anfangs lassen es sich einige Exilliteraten in der Stadt am Meer gutgehen. Keun lernt dort unter anderem Joseph Roth kennen, der für eine Weile ihr Zechkumpan und Liebhaber wird. Doch mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Belgien und den Niederlanden wird es für sie zu gefährlich. Im Exil fällt sie stärker auf als in Deutschland. Die Rückkehr in ihr Heimatland sei keineswegs der Liebe zur Sprache geschuldet, hat Bienert recherchiert: „Die Rückkehr war eine reine Sache des Überlebens.“ Mit falschen Papieren reist sie als Charlotte Tralow zurück nach Deutschland, lebt mal in Köln, mal an der Mosel.
Nach dem Krieg arbeitet Keun zunächst für den Hörfunk und hat laut Bienert bis Anfang der 50er-Jahre eine produktive Zeit. Dann verfällt sie mehr und mehr dem Alkohol. „Als die Eltern sterben, entgleitet ihr das Leben komplett“, so Bienert. Von 1966 bis 1972 verbringt sie sechs Jahre im Rheinischen Landeskrankenhaus Bonn. Es ist der Tiefpunkt ihres Lebens.
Irmgard Keun hat es nicht leicht gehabt; sie hat es aber auch ihren Mitmenschen nicht einfach gemacht. Ihre Freundschaft mit Annemarie Schäfer zerbricht ebenso am Alkoholismus wie die Bekanntschaft mit dem Ehepaar Böll. Mit Heinrich Böll zieht sie über den Materialismus im Nachkriegsdeutschland her. Eine Publikation scheitert, die Arbeiten finden sich erst im veröffentlichten Nachlass Bölls. Aus ihren vielen Briefen geht auch hervor, dass sie es mit der Wahrheit nicht immer so genau nimmt. „Sie hat die ein oder andere Nebelkerze gezündet“, sagt Bienert. Schon früh macht sie sich fünf Jahre jünger. Über ihren wahren Gefühlszustand lässt sich aus den Briefen wenig ablesen. Liebesbeteuerungen mit fast identischem Text schickt sie kurz hintereinander an ihren Ex-Mann Tralow und an Strauss in den USA. Selbst ihre Ankunft in Ostende datiert sie später um ein Jahr zurück, wohl um ihre Zeit in Frankfurt vergessen zu machen. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus erlebt sie noch einmal eine gute Phase, als ihr Werk wiederentdeckt wird. „Nach Mitternacht“ wird 1981 mit Desirée Nosbusch verfilmt, die auch zu „Frankfurt liest ein Buch“ kommt. Die Neuauflage zum Frankfurter Literaturfest ist mit der Nachkriegszeit und den späten 70er-Jahren die dritte Wiederentdeckung einer großartigen Schriftstellerin, die ein zerrissenes Leben führte.
Keuns Briefe 1935 - 1948 „Man lebet von einem Tag zum andern“ wurden von Michael Bienert herausgegeben.
