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Frankfurt jagt ein Phantom

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Von: Stefan Behr

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Spurensuche: Polizeibeamte im März 1998 in Höchst.
Spurensuche: Polizeibeamte im März 1998 in Höchst. © dpa

Im Fall des 1998 in Frankfurt ermordeten Tristan gibt es viele Spekulationen, viele Legenden, aber wenig Fakten. Ob der Serienmörder aus Schwalbach tatsächlich sein Mörder ist, ist nicht absolut sicher.

Im Kino gab es ein Happy End. In Fritz Langs Klassiker „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ wird der von Peter Lorre verkörperte Kindermörder durch harmonische Zusammenarbeit von Polizei und Unterwelt noch zu Lebzeiten zur Strecke gebracht und dem zugeführt, was man wohl als Gerechtigkeit bezeichnen kann.

Das Bild des 1998 im Alter von 13 Jahren ermordeten Tristan Brübach hat sich in das kollektive Gedächtnis gebrannt. Fast jeder kennt das Bild des blonden Jungen mit Mittelscheitel, der leicht schmollend für die Kamera posiert. Es ist so bekannt wie das Bild des ermordeten Jakob von Metzler.

Doch immer, wenn man an dessen fröhliches Lausbubengesicht denkt, schiebt sich unweigerlich auch das Bild seines Mörders Magnus Gäfgen dazu, damals einer der wohl meistfotografierten Angeklagten des Landes. Diese ikonographische Verschmelzung bleibt Tristan Brübach immerhin erspart: Von Manfred S. hat niemand ein Bild im Kopf. Bislang zumindest.

Es gibt da nur das Phantom. Seit 2009 geistert es durch die Netze, als die Ermittler, die den Fall nie aufgegeben haben, noch einmal an die Öffentlichkeit gingen. Das Bild zeigt einen etwa 1,75 Meter großen Mann, blass und schlank, das blonde Haar zu einem Zopf zusammengebunden, eine auffällige Narbe prangt über der linken Oberlippe. Das Bild basierte größtenteils auf den Beobachtungen dreier Jugendlicher, die den Mörder wohl bei seiner Tat beobachtet hatten – wenn auch ohne zu erkennen, dass sich dort gerade ein Mord abspielte. Dass der Fall Tristan bis heute in Frankfurt solch traurige Berühmtheit hat, ist mit Sicherheit auch den grausamen Details geschuldet. Die Ermittler gehen davon aus, dass Manfred S. ein Jäger und Sammler war, einer, der seinen Opfern Körperteile abschnitt, um sie als Trophäen zu behalten. Auch das würde zum Mordfall Tristan passen.

Doch zur Legendenbildung tragen auch spektakuläre Fahndungsmethoden bei – die allerdings keinen Erfolg bringen. 2002 startet die Polizei – in Anlehnung an den Lang-Film – die „Unterliederbach und Höchst suchen einen Mörder“ betitelte Fingerabdruck-Sammelaktion. Mehr als 10 000 Abdrücke werden mehr oder weniger freiwillig gesammelt. Ein Treffer, der zu dem blutigen Fingerabdruck auf Tristans Schulheft passt, ist nicht dabei.

Ein Fall von Kannibalismus?

Die Spekulationen schießen ins Kraut. Im Internet machen sich viele so ihre Gedanken. Über den möglichen Täter. Über dessen Motiv. Ein klarer Fall von Kannibalismus, meinen selbsternannte Experten. Der Täter wird zeitweise in Tschechien verortet. Grund: ein in einem Wald bei Niedernhausen gefundener Rucksack, der dem Mörder zugerechnet wird und der neben einem Messer noch eine tschechische Landkarte enthält. Das Messer scheidet jedoch als Tatwaffe aus, und auch die tschechische Spur führt ins Nirgendwo.

Die Polizei veröffentlicht ein Täterprofil: Einzeltäter, zur Tatzeit 25 bis 35 Jahre alt, vermutlich ohne Intimbeziehung und engere soziale Kontakte, sexuelle Neigung zu Kindern, Ortsbezug zu Höchst oder Hofheim – ein Steckbrief, der im Nachhinein kaum zu Manfred S. passt.

2008 kommt der Fall noch einmal in der TV-Sendung „Aktenzeichen XY...ungelöst“, 2013 nimmt sich „Spiegel TV“ der Sache noch einmal an. Bereits zu diesem Zeitpunkt stapeln sich bei den Ermittlern mehr als 20 000 Hinweise in 360 Aktenordnern. Ein paar neue kommen hinzu. Zeitweilig arbeiten mehr als 100 Polizeibeamte gleichzeitig an der Lösung des Falls.

Doch den jetzigen Fahndungserfolg – so es denn einer ist – bringen erst die Kommissare Zeit und Zufall. Und sie kommen ein bisschen zu spät. Zu spät für Tristans Vater, der 2015 starb, ohne je Klarheit über das Schicksal seines Sohnes gehabt zu haben. Und auch die Öffentlichkeit wird ihre Momente der Befriedigung nicht haben. Nicht wie bei Magnus Gäfgen, der immerhin mit aller Härte, die das Gesetz zu bieten hat, verurteilt wurde. Nicht wie bei Jürgen E., der 1981 die 16 Jahre alte Trixi Scheible ermordet hatte und 25 Jahre später durch eine DNA-Probe aufflog und 2007 vom Frankfurter Landgericht in einem spektakulären Prozess wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war – Totschlag wäre nach 20 Jahren verjährt gewesen. Bei der Urteilsverkündung damals brüllten mehrere Zuschauer, die viel zu jung waren, um als Trixi Scheibles Zeitgenossen durchzugehen, sehr zum Unmut des Richters laut „Bravo“, ein paar fingen vor Erleichterung ungehemmt zu schluchzen an.

Das Element der Sühne wird im Falle Tristan wohl immer fehlen. Was bleiben wird, ist das Bild des blonden Jungen. Und vielleicht noch eine Zeitlang die Erinnerung an die jahrelange Jagd nach einem Phantom. Aber auch die wird verblassen.

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