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Ermittler suchen Verbindungen zwischen Lübcke-Mord und NSU

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Von: Jörg Köpke

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Walter Lübcke - Hauptverdächtiger Stephan E.
Hauptverdächtiger Stephan E. © Uli Deck/dpa

Ex-Verfassungsschützer Temme hatte Kontakte zu dubiosem Sicherheitsmann.

Wenige Tage nach dem neuen Geständnis des dringend tatverdächtigen Stephan E. im Mordfall Walter Lübcke tauchen alte Vernehmungsakten auf. Die Ermittler durchforsten Vermerke und Spuren im Zusammenhang mit der Mordserie der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU).

Sie erscheinen im Zusammenhang mit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke 2019 in neuem Licht. In den Fokus rückt erneut Andreas Temme, ein ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz.

Ermittlungsunterlagen des Polizeipräsidiums Mittelfranken belasten den früheren Verfassungsschützer. In einem Vermerk vom Juni 2006, der dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) vorliegt, gibt der Mitarbeiter einer Kasseler Sicherheitsfirma zehn Wochen nach dem NSU-Mord in Kassel zu Protokoll, Temme seit etwa 1990 zu kennen. Beide hätten in Rockerkreisen verkehrt mit Beziehungen zu einem Motorradclub namens „Wheels of Steel“. Beide hätten gemeinsam an Schießübungen teilgenommen. Geschossen wurde nach Aussage des Zeugen Jürgen S. in zwei Kasseler Schützenvereinen, zunächst in Vellmar, später in Waldau, jeweils nur wenige Kilometer Luftlinie vom späteren NSU-Tatort im Norden Kassels entfernt.

Geübt wurde mit der Dienstwaffe des Sicherheitsmannes – einem Revolver der Marke „Rossi“, Modell 27, Kaliber 38 Spezial. Mit einer Waffe dieses Typs wurde 13 Jahre später Lübcke erschossen. Ob auch Temme mit der „Rossi“ übte, bleibt in dem Vermerk unklar.

Der Zeuge Jürgen S. verfügte bis zum NSU-Mord in Kassel über ein Diensthandy, das fest mit seinem Geldtransporter verbunden war. Laut Aktenvermerk taucht die Nummer des Handys zweimal in Funkzellenabfragen der Ermittler zeitgleich in unmittelbarer Nähe zu weiteren NSU-Morden auf: am 15. Juni 2005 in München sowie sechs Tage zuvor in Nürnberg.

V-Mann-Führer Temme war nur wenige Meter entfernt, als am 6. April 2006 der 21-jährige Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé mit zwei gezielten Kopfschüssen getötet wurde. Kassel markierte den neunten NSU-Mord. Temme galt zwischenzeitlich als tatverdächtig, wurde festgenommen und mehrfach verhört.

Neben seinem „Faible für Waffen“ gab Temme bei einer Sicherheitsüberprüfung im Juli 2006 „Motorrad fahren“ als Hobby an. Er räumte ein, den Präsidenten der Kasseler Hells Angels zu kennen. Den Kontakt vermittelt habe sein „Freund“ Jürgen S., der Fahrer des Kasseler Geldtransporters. Laut Bundesanwaltschaft soll Jürgen S. Temme für den ersten NSU-Mord im Jahr 2000 in Nürnberg ein Alibi verschafft haben.

Rockergangs wie Hells Angels oder Bandidos sollen hessischen Neonazis Waffen besorgt haben. Die Bundesanwaltschaft prüft den Verbleib von Waffen aus Schleswig-Holstein, darunter auch Revolver vom Typ „Rossi“.

Der Verfassungsschützer Temme wurde verdächtig, weil er sich als einziger Zeuge des Kasseler NSU-Mordes nicht freiwillig bei der Polizei gemeldet hatte. Während seiner späteren Vernehmungen widersprach sich der Sportschütze mehrmals.

In diesem Herbst musste Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) einräumen, dass Temme mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan E. vor 2006 „dienstlich befasst“ war. In welcher Form, sagte Beuth nicht, fügte jedoch vor dem Innenausschuss des Landtages hinzu, man solle sich davor hüten, „durch haltlose Thesen Verschwörungstheorien zu bedienen“.

Nach Angaben des hessischen Verfassungsschutzes wurden im Jahr 2000 mindestens zwei Berichte in der Verfassungsschutzakte von Stephan E. von Temme unterschrieben. Stephan E. hat inzwischen in einem neuen Geständnis seinen Komplizen Markus H. belastet, Lübcke versehentlich erschossen zu haben.

Die Ermittler halten es für möglich, dass der Kasseler Geldtransporter genutzt wurde, um Täter und Tatwaffen unbemerkt an möglichen Polizeikontrollen vorbeizuschleusen. Und sie untersuchen, welche Rolle die Rocker- und Schützenbekanntschaft zwischen Jürgen S. und Temme gespielt haben könnte.

Die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner verlangt Aufklärung. „Es ist genau dieser Punkt, zu dem sowohl in der NSU-Aufklärung als auch im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübcke hessische wie Bundesbehörden zur Aufklärung beitragen können: Welche Verbindungen gibt es über V-Leute, den Schießsport und die Rockerszene zwischen dem Verfassungsschützer Temme und den Mördern?“, sagte sie dem RND.

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