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Erbeben in der Türkei: „Die Hilfe fängt erst jetzt richtig an“

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Von: Timur Tinç

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Vereins- und Vorstandsmitglieder von Libra, von links: Deniz Özdemir, Yasemin Aşut, Cem Aslantaş, Kasım Çölkuşu, Nazlı Kuyugusuz und Ibrahim Çırcı.
Vereins- und Vorstandsmitglieder von Libra, von links: Deniz Özdemir, Yasemin Aşut, Cem Aslantaş, Kasım Çölkuşu, Nazlı Kuyugusuz und Ibrahim Çırcı. © Timur Tinc

Der Verein Libra aus Babenhausen fliegt mit mehreren Teams zum zweiten Mal in das türkische Erdbebengebiet, um Spenden hinzubringen und vor Ort zu helfen. Die erste Reise war für alle sehr emotional.

Jeden Tag bekommt Cem Aslantaş mehrere Hilferufe aus der Türkei. „Eine Frau aus Gaziantep schreibt mir gerade, dass sie ein Zelt braucht, weil da behinderte Kinder sind“, sagt der Vorsitzende des Vereins Libra, der seinen Sitz in Babenhausen hat, und zeigt die Nachricht auf seinem Handy. Über hundert ungelesene sind in seinem Postfach bei Instagram. Dort folgen dem 35-Jährigen rund 53 300 Menschen, vor allem wegen seiner Bekanntheit als Sänger der Musikgruppe Bambaşka (zu Deutsch ganz anders).

Hauptberuflich ist er Bauleiter. Aslantaş bereitet gerade mit seinem Team die zweite einwöchige Reise in das Erdbebengebiet der Türkei vor, um vor Ort direkt Hilfe zu leisten. Am Samstag geht es los. Aktuell werden unter anderem große Koffer gesucht. Weitere Spenden sind ebenfalls herzlich willkommen.

Libra hat bereits mehr als 200000 Euro über Paypal gesammelt

Mehr als 200 000 Euro hat der Verein über den Bezahldienst Paypal für die Türkeihilfe gesammelt, berichtet Kassenwart Kasım Çölkuşu. 20 000 Euro sind das Limit pro sogenanntem Moneypool. Paypal behält zwischen 700 und 900 Euro als Gebühr ein. „So ist es am transparentesten, weil alles aufgelistet ist“, sagt Çölkusu. Bei Spenden auf das Konto habe es in der Vergangenheit immer wieder viele Nachfragen gegeben, wie viel denn eingegangen sei und wofür es ausgegeben werde. Deshalb der Weg über Paypal. Bei der ersten Reise wurden 87 000 Euro ausgegeben, sagt der 38-Jährige. Unter anderem für 600 Kilogramm Medikamente, 20 Tonnen Brennholz, 42 Heizöfen, 220 Matratzen, 160 Zelte und 870 Lebensmittelpakete, 300 Hygienepakete und 400 Spielzeuge.

Gegründet wurde Libra (Lateinisch Waage) im Jahr 2020. Aslantaş hatte einst in Deutschland Decken und 600 Kilogramm Futter für Straßenhunde in der Türkei gesammelt, konnte sie aber im Jahr 2017 wegen des Ausnahmezustands nicht ins Land bringen. So hat er zusammen mit Freunden die Sachen nachts in Frankfurt an Obdachlose verteilt, das Futter an Tierheime. Aus vereinzelten Aktionen für Obdachlose, an denen immer mehr Freiwillige nach seinen Aufrufen teilnahmen, wurde ein festes Projekt: Vegetarisch Kochen für Obdachlose. Erst zu Hause, dann „gefühlt jedes Wochenende woanders“. sagt Deniz Özdemir (26) aus dem Vorstand.

Das Dauerprojekt des Vereins ist Obdachlosenhilfe in Frankfurt

Seit drei Jahren kocht und verteilt Libra jedes Wochenende Essen an die Bedürftigen in Frankfurt. Sie haben einen Stand am Eschenheimer Tor. Danach sind sie unterwegs auf der Zeil, anschließend im Bahnhofsviertel. Im Winter werden neben warmen Mahlzeiten, Kleidung, Schuhe und Hygieneartikel verteilt. „Was viel wichtiger für sie als das Essen ist, ist, dass wir ihnen zuhören und mit ihnen reden“, findet Özdemir. Dazu kommen weitere Projekte mit Kinderheimen, Altersheimen, Tierheimen oder einer Schule in Adana.

Der Verein

Der gemeinnützige Verein Libra e.V. aus Babenhausen kocht seit drei Jahren an jedem Wochenende Essen für Obdachlose und verteilt die Mahlzeiten in Frankfurt. Aktuell engagiert sich der Verein vor allem für die Erdbebenopfer in der Türkei und wird mit mehreren Teams hinfliegen, um Hilfe direkt vor Ort zu leisten. Alle Projekte werden auf Instagram dokumentiert sowie die aktuellsten Links für Spenden geteilt.

www.instagram.com/projektlibra

Das Spendenkonto lautet: Libra e.V., IBAN: DE22 5085 2651 0160 0208 06

„Diese Dankbarkeit macht süchtig“, findet Aslantaş. Ibrahim Çırcı (26) hat zwar öfter Geld gespendet, aber immer eine innere Unruhe verspürt. „Wenn ich zwei Kisten Essen direkt an die Menschen verteile, ist es als hätte ich 4000 Euro gespendet.“ Çırcı ist jedes Wochenende mit dem Obdachlosenprojekt beschäftigt, während sich der Fokus des Vereins seit einem Monat auf die Türkei verlagert hat.

Der Verein hat Container mit Toiletten und Duschen gekauft

Am 6. Februar hat ein Erdbeben der Stärke 7,7 mit seinem Epizentrum in Kahramanmaras alleine in der Türkei nach aktuellen Zahlen mehr als 45 000 Menschen das Leben gekostet. Hunderttausende sind obdachlos. „Es gibt immer noch Leute, die haben nach vier Wochen nicht geduscht und tragen dieselbe Kleidung“, sagt Aslantaş. Er habe Kinder mit Krätze gesehen, außerdem sei wegen der unhygienischen Zustände Cholera ausgebrochen.

Der Verein hat für das Dorf Narli in der Nähe der Stadt Pazarcik vier Container mit je sechs Toiletten und sechs Duschen bestellt. Diese sollen an das Abwassersystem angeschlossen werden. Die zweite Vorsitzende, Yasemin Aşut wird erneut in die Provinz Hatay fliegen. „Wir wollen unter anderem Spielzelte aufbauen“, erzählt die 26-Jährige. Nazlı Kaygusuz wird ebenfalls nach Hatay fliegen und Hilfsgüter in Dörfer bringen, die von der Außenwelt völlig abgeschnitten sind.

Die Begegnungen mit den Menschen haben alle emotional mitgenommen

Die 25-Jährige hat selbst mehrere Familienmitglieder durch das Erdbeben verloren. „Die eigene Familie hatte das Bedürfnis, alles zu bereden“, erzählt sie. Die Hinterbliebenen, die mit ansehen mussten, wie ihre Liebsten vor den eigenen Augen unter Trümmern begraben wurden seien traumatisiert, einige plagten Schuldgefühle. Kaygusuz hat Trost gespendet, viel zugehört und selbst geweint. Genauso ging es den anderen.

Sie haben fremde Menschen umarmt, die gerade ihre Liebsten verloren haben. „In vielen Augen war einfach nur noch eine Leere“, erzählt Aşut. Sie ist an toten Menschen vorbeigelaufen über die nur Plastikplanen gelegt worden sind. Nachts war es so dunkel, dass es sie an den Film „Purge“ erinnert hat. Es habe Schießereien gegeben. Sie war heilfroh, dass die Gendarmerie vor Ort war.

Geschlafen haben die Vereinsmitglieder bei ihrer ersten Reise in Autos

Die insgesamt drei Teams hatten sich im Vorfeld Fahrer organisiert. Aslantaş und Özdemir waren zunächst in Elbistan, sind von dort nach Kahramanmaras und haben im Auto geschlafen. An Duschen und Klamottenwechsel war nicht zu denken. Ihre einzige Nahrung waren oft Proteinriegel.

Besonders in Erinnerung sind Aslantaş die Stunden geblieben, in denen nach Menschen unter Trümmern gesucht wurde. Auf ein Signal hin mussten alle still sein und dann haben alle gleichzeitig gerufen: „Hört jemand meine Stimme. Wenn ja, klopf drei Mal. Während sie das machten hat 100 Meter weiter ein Bagger mit der Schaufel gearbeitet“, berichtet Aslantaş kopfschüttelnd.

Die Hilfe haben sie vor allem in abgelegene Gebiete verteilt

Nicht nur da hat es an Koordination gemangelt. Die Verteilzentren seien zwar voll, die Sachen würden aber nicht verteilt und wenn, dann nur an die gleichen Stellen, haben die Vereinsmitglieder beobachtet. Aus Lkws seien Kleidung oder Pakete mit Wasserflaschen auf die Straße geworfen worden, weil es niemanden gab, der für die Abholung gesorgt hat.

„Es gab schlechte Menschen, die versucht haben die Situation auszunutzen, aber es gab auch Verzweifelte, die nichts zu essen und zu trinken hatten“, berichtet Özdemir. Die drei Teams sind an Orte gefahren, wo wenig oder gar keine Hilfe angekommen ist. Sie sind in selbst errichtete Zeltdörfer und haben Essenspakete gekauft, Powerbanks, Taschenlampen oder Spielzeuge. Dabei hätten einige Händler die Gunst der Stunde genutzt, um Wucherpreise für Zelte oder Decken zu verlangen.

Ballons an Trümmer gehängt, um an verstorbene Kinder zu erinnern

Yasemin Aşut, die eine Woche vor dem Erdbeben beim Schulprojekt des Vereins in Adana war, hatte Luftballons dabei. Zusammen mit dem Projektleiter der Schule, Ogün Sever Okur, der ebenfalls vor Ort war, haben sie beim Warten auf Zelte für jedes tote Kind einen Ballon an den Trümmern aufgehängt. „Erst im Nachgang haben wir herausgefunden, dass da ein Kindergarten war“, erzählt sie. Über diese Aktion in Hatay wurde in zahlreichen Medien berichtet. Am vergangenen Wochenende war die 25-Jährige unter anderem mit Ibrahim Çırcı auf der Zeil unterwegs, um Kindern einen Ballon und Süßigkeiten zu schenken. Gleichzeitig wurden Spenden gesammelt.

Die Begegnungen in der Türkei haben sie nachhaltig beeindruckt. Gutmütigkeit, Dankbarkeit und Selbstlosigkeit sei ihnen in so vielfältiger Weise entgegen geströmt, dass es ihre Herzen erwärmt habe. Es hat die Schlaflosigkeit, die Müdigkeit und all die anderen Emotionen für diese Momente vergessen lassen. „Wir haben Essen von Leuten angeboten bekommen, die selbst nichts hatten“, berichtet Aslantaş. In einer Bäckerei, die nachts Brote gebacken hat, haben sie mehrere Laibe in die Hand gedrückt bekommen. Außerdem ist einer der Bäcker in einen zerstörten Laden und hat Käse und Oliven besorgt. Von einer alten Frau, für die er mehrere hundert Meter einen vollen Schubkarren voller Holz gefahren hat, bekam der 35-Jährige drei Walnüsse geschenkt.

Der Vereinsvorsitzende Cem Aslantaş: „Wir haben alle einen Schaden davongetragen“

Yasemin Aşut und Nazlı Kaygusuz durften nicht gehen ohne wenigsten Orangen und Zitronen aus den Gärten der Leute mitzunehmen, denen sie gerade etwas zu Essen gebracht hatten. „Ich bereue keine Sekunde, hingefahren zu sein“, sagt Kaygusuz. Auch wenn es die härteste Woche ihres Lebens war. Im Vergleich zu den Menschen, die sie gesehen hat, weiß sie jedoch zu schätzen, welches Glück sie im Leben hat. Aşut kann mit ihrer Familie über das Erlebte gar nicht reden, weil sie sie nicht belasten will. Özdemir fühlt seit seiner Rückkehr nach Deutschland ein Unbehagen wenn er Menschen darüber sprechen hört, was sie heute essen wollen. Er spüre irgendwie einen Ekel gegenüber sich selbst, auch wenn es dafür keinen rationalen Grund gebe.

„Wir haben alle einen Schaden davongetragen“, sagt Aslantaş. Direkt am ersten Tag in der Türkei wollte eine alte Frau von ihm und Özdemir, dass sie ihre tote Tochter beerdigen. Selbst wenn er es über sich gebracht hätte: Es gab weder Schaufeln und der Boden war völlig vereist. „Das haben wir bis heute nicht ganz überwunden.“ Trotzdem wollen er und sein Team weiter anpacken und ihre Mitmenschen nicht im Stich lassen. Einem kleinen Jungen, den er kennengelernt und ein ferngesteuertes Auto versprochen hat, will er auf jeden Fall wieder besuchen. „Die Hilfe fängt jetzt erst richtig an“, betont Aslantaş.

Hier stand einmal ein Kindergarten. Bunte Ballons für die bei der Erdbebenkatastrophe in Hatay gestorbenen Kinder.
Hier stand einmal ein Kindergarten. Bunte Ballons für die bei der Erdbebenkatastrophe in Hatay gestorbenen Kinder. © Privat
Cem Aslantas bringt Lebensmittel zu den Menschen ...
Cem Aslantaş bringt Lebensmittel zu den Menschen ... © Privat
... und hat Spielzeuge und Kuscheltiere für Kinder dabei.
... und Deniz Özdemir hat Spielzeuge und Kuscheltiere für Kinder dabei. © Privat
Helfer machen in den Trümmern eine Pause.
Helfer machen in den Trümmern eine Pause. © Privat

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