Ende der Bahnhofskultur

Mit den Mitteln der Kunst prangern hessische Künstler den Verfall entlang der Schienenwege an. Ab Sonntag zeigt die Kunstkooperative Rhein-Main ihre Werke in Biebesheim. Die Künstler hoffen, gemeinsam mit anderen Bürgern Lösungen zu finden.
Mit den Mitteln der Kunst prangern hessische Künstler den Verfall entlang der Schienenwege an. Ab Sonntag zeigt die Kunstkooperative Rhein-Main ihre Werke in Biebesheim. Die Künstler hoffen, gemeinsam mit anderen Bürgern Lösungen zu finden.
Feierabend. Der Regionalexpress nach Mannheim spuckt ein Dutzend Leute aus. Pendler aus Frankfurt, sie haben es eilig. Was sollen sie auch an diesem trostlosen Bahnhof Biebesheim mit seinen verrammelten Fenstern und der nach Urin stinkenden Unterführung, in der sich nachts die Ratten tummeln? Vielleicht noch ein Bier in der rauchgeschwängerten Gaststätte.
Auch dort ist der Verfall gegenwärtig. „Hier gibt es so riesige Löcher in den Mauern, dass es überall zieht“, sagt Klaus Hauck. Seit drei Jahren ist er Pächter der „Bahnhofsgaststätte“, wie das Lokal treffend wie nüchtern heißt. Seit drei Jahren hört er, dass das mehr als 100 Jahre alte Gebäude saniert werden, dass sogar die Wohnung oben wieder benutzbar gemacht werden soll.
Doch die Realität ist eine andere: Alle zwei Tage muss der Wirt Heizungswasser nachfüllen, der Putz bröckelt von der Fassade, bei Wind löst sich schon mal eine Dachschindel. „Letztens wurde erst ein Auto beschädigt.“
Morbider Charme
Der Biebesheimer Bahnhof steht im hessischen Ried an der Strecke Frankfurt–Mannheim. Er könnte aber auch in Mittelhessen stehen oder in Mecklenburg-Vorpommern: Knapp 500 Stationsgebäude hatte die Bahn vor fünf Jahren an ein internationales Konsortium verkauft, darunter 50 in Hessen. Nun, hofften die Menschen, zieht endlich wieder Leben in die denkmalgeschützten Gemäuer ein, die der Staatskonzern jahrzehntelang vernachlässigt hatte. Nun hat unser Bahnhof eine Zukunft, gibt es vielleicht sogar mal wieder eine öffentliche Toilette und einen wettergeschützten Raum zum Warten. Nach fünf Jahren sind die meisten Bahnfahrer desillusioniert. Selten hat sich etwas zum Positiven verändert. Im Gegenteil: Der Verfall geht weiter.
Der Bahnhof in Biebesheim im Kreis Groß-Gerau ist nur ein Beispiel. „Wir holen ihn jetzt exemplarisch ans Tageslicht“, sagt Lothar Reinhardt, der dem Gebäude einen Comic gewidmet hat. Titel: „Endstation“. Es gehe auch um ein gesamtgesellschaftliches Problem: „Es ist symptomatisch, dass der öffentliche Raum, der den Bürgern gehört, vernachlässigt wird.“
In Reinhardts Atelier, ihm gegenüber, sitzt Peter Sorge. Er wirft ein, dass viele Bahnhofsgebäude ihre frühere Funktion verloren hätten. Sorge hat mit dem Fotoapparat und Aquarellfarbe den morbiden Charme der Gebäude eingefangen, war meist nachts unterwegs, oft selbst überrascht über die Ästhetik, die er entdeckte.
„Eine Bahnhofskultur existiert nicht mehr“, fährt er mit nüchterner Analyse fort. „Heute kauft man seine Brötchen oder seine Zeitung an der Tankstelle.“ Doch wenn die Benzinpreise weiter steigen, werde sich das wieder ändern, wirft Reinhardt ein, der auch andere Nutzungsideen für Bahnhöfe hat: eine Fahrradwerkstatt oder ein Domizil für den Heimatverein. Seit Monaten ist der Bahnhof beherrschendes Gesprächsthema in der Kunstkooperative RheinMain. Jeder der zwölf Mitglieder hat sich ihm auf seine Art genähert und zeigt das Ergebnis nun in einer Ausstellung, die morgen in Biebesheim eröffnet wird.
Künstlerische Bestandsaufnahme
Sandra Hoffmann verarbeitet Reinhardts Comic zu einem Animationsfilm. Brigitte Mäder hat einen alten Koffer bemalt, in dem Figuren das Leben in einem Bahnhof darstellen – vom Kuchenverkauf bis zum Demonstranten mit dem Schild „Stuttgart 21, Biebesheim 12“. Es gibt eine poetische Skulptur von Rebekka Mann und einen Berg kleiner Bahnhöfe aus Wellpappe von Elke Reinhardt. „Über jeden regen sich 1000 Bürger auf“, sagt ihr Ehemann Lothar.
Eine Lösung gegen den drohenden Verlust eines Kulturguts, betont der Künstler, hätten er und seine Mitstreiter nicht. Vielmehr wollten sie auf soziale Bedingungen reagieren, mit ihren Werken auch Menschen ansprechen, die sich eigentlich nicht für Kunst interessieren. „Wir gucken uns das an, machen eine Bestandsaufnahmen.“ Die müsse nicht zwangsläufig nüchtern ausfallen. „Als Künstler haben wir den Freiraum, herumzuspinnen.“ Und doch hoffen sie auf Resonanz, die ihr Anliegen in die Breite trägt. Auf einem Fragebogen können Ausstellungsbesucher aufschreiben, wie sie sich die Zukunft ihres Bahnhofs vorstellen.
Wohl kaum so, wie Reinhardt sie in seinem Comic zeigt? Ratten arbeiten sich von Station zu Station und geben den Gebäuden den Rest. „Ist das die Endstation?“, heißt es zum Schluss. Wenn das Projekt der Kunstkooperative Erfolg hat, mit Sicherheit nicht.
Braucht auch Ihr Bahnhof eine Kunstaktion? Oder gleich eine Sanierung? Kommentieren Sie Ihre Erfahrungen mit maroden und trostlosen Stationen in Ihrer Umgebung hier online. Die FR bleibt bei der Sache mit den Bahnhöfen am Ball.