Digitales Archiv für Grabinschriften angestrebt

Für die Toten ist der Jüdische Friedhof in Bad Soden ein Ort des ewigen Lebens. Die Geschichten auf den Grabsteinen aber sind vergänglich. Lissy Hammerbeck will retten, was noch zu retten ist.
Von Jürgen Streicher
Wenn der Messias sein Nahen mit Posaunenschall ankündigt, um die Toten zu wecken, sollen diese bereit sein für den Übergang in eine andere Welt. Die auf dem Jüdischen Friedhof in Bad Soden begrabenen Toten blicken, wenn sie einst auferstehen, gleich in die richtige Richtung. Alle Gräber dort sind nach Jerusalem ausgerichtet, so ist es jüdischer Brauch. Nur ein Grab fällt aus dieser Ordnung, steht quer zu den Reihen rechts und links des Weges durch den Ort der Ruhe. Es ist die Grabstätte eines Sohnes eines früheren Gemeindevorstehers, der sich nachweislich selbst getötet hat.
Schnee liegt auf den Gräbern in diesen Tagen. Das noch stiller als sonst anmutende Kleinod am Stadtrand wird zu einem verwunschenen Ort. Ein Ort wie eine Bibliothek mit vielen Geschichten, in Sandstein, Basalt und Granit gemeißelt. Der Friedhof ist ein Beth-Hachajim, wie es im Hebräischen heißt, ein „Haus des (ewigen) Lebens“. Ein Ort des ewigen Lebens ist er für die Toten, die hier Liegerecht haben bis zur Auferweckung durch den Messias. Dies gebietet eine jüdische Glaubensvorschrift. Die Geschichten auf den Grabsteinen aber sind vergänglich. Immer mehr verblassen, zerbröseln, verwittern. Manche wurden zerstört, an anderen hat der Zahn der Zeit schon heftig genagt, Frostschäden tun ein übriges.
Lissy Hammerbeck will retten, was noch zu retten ist vom „Archiv im Freien“, das vor 144 Jahren angelegt wurde, als die Stadt noch nicht so nah an den Ort des Friedens herangewachsen war. Für die jüdischen Gemeinden von Soden, Höchst mit Unterliederbach, Okriftel, Hattersheim und Hofheim. „Wenn nichts gemacht wird, dann ist es weg“, sagt die 62 Jahre alte Lissy Hammerbeck, die zu ganz vielen Gräbern und den Menschen, die hier zur letzten Ruhe gebettet wurden, Geschichten erzählen kann. Ihr geht es um die Geschichten, die von den Grabsteinen erzählt werden. Die mit hebräischen Schriftzeichen von christlichen Steinmetzen in den Stein gehauen wurden, um an die Toten zu erinnern. Niemals sollen sie vergessen sein.
Das Archiv im Freien soll um ein digitales Archiv ergänzt werden. Eine aufwendige Arbeit, „nur Spezialisten können die Inschriften übersetzen“, sagt Lissy Hammerbeck. Einen Fotografen, der ehrenamtlich für das Projekt arbeitet, hat sie schon gewonnen. Mit einem besonderen Bildbearbeitungsprogramm versucht er, verschwindende Texte wieder lesbar zu machen. Und doch wird das Projekt wohl eine fünfstellige Summe kosten, Hammerbeck hofft auf Firmensponsoren und private Spenden.
Seit fast fünf Jahrzehnten beschäftigt sich die umtriebige Frau privat mit Forschungen zur jüdischen Geschichte speziell in Bad Soden. Aufgewachsen ist sie in einem christlich geprägten Umfeld, doch der aus dem Sudetenland stammende Vater hatte viele Kontakte zu jüdischen Mitbürgern, die das Interesse der jungen Frau an jüdischer Geschichte geweckt haben. Im Vorstand der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (CJZ Main-Taunus) ist sie aktiv, ebenso in der AG „Stolpersteine in Bad Soden“, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung im Stadtbild sichtbar machen will.
In einem Beschluss von 2011 „begrüßt die Stadtverordnetenversammlung das Projekt Stolpersteine“, verlegt wurden bisher aber erst acht Steine nach dem Konzept des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Die Stadt hat zurzeit die Aufgabe, in Zusammenarbeit mit dem Regierungspräsidium und den Denkmalbehörden ein Konzept und eine Finanzierungsidee für die Sanierung der einsturzgefährdeten Friedhofsmauer zu erarbeiten. Die Einfassung des Jüdischen Friedhofs wird in Teilabschnitten derzeit nur notdürftig mit Hilfe von Holzbalken abgestützt.
Viermal im Jahr wird Lissy Hammerbeck zur Friedhofsführerin auf dem Gelände am Ortsausgang Richtung B 8. Erzählt Interessierten etwa von Karoline Baum, der „Frau vom Metzger Baum“ aus Höchst, oder vom Viehhändler Moritz Strauss, der 1938 als Letzter im Beth-Hachajim beerdigt wurde. Erzählt vom Sohn des Gemeindevorstehers, der sich das Leben nahm, und den gestorbenen Kurgästen aus der einstigen Israelitischen Kuranstalt, die bei den November-Pogromen 1938 zerstört worden ist. Auch diese sind im Gräberverzeichnis im „Protocoll-Buch der Israelitischen Todenhofs-Anlage“ aufgeführt, das Hammerbeck dann stets dabei hat.
Manchmal macht sie die Führung auch für weit angereiste Nachfahren jüdischer Familien, die aus Israel und den USA gekommen sind auf der Suche nach Spuren von Angehörigen. Niemals aber tut sie dies am Schabbat oder an jüdischen Feiertagen. An Tagen, die der Freude und Ruhe gewidmet sind, ist der Besuch eines Ortes für die Trauer nicht gestattet.