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„Die Visa-Erleichterungen sind eine Farce“

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Von: Timur Tinç

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Ein Straßenzug in der Region Karamanmaras in der Türkei.
Ein Straßenzug in der Region Karamanmaras in der Türkei. © Luftfahrt ohne Grenzen

Enis Gülegen, Vorsitzender der Agah, über die Einreisebedingungen für Opfer des Erdbebens.

Herr Gülegen, das Erdbeben mit Zehntausenden Toten in der Türkei und Syrien hat auch hier viele Menschen unmittelbar getroffen. Wie gehen die Communitys damit um?

Das Ausmaß der Betroffenheit ist unermesslich. Seitdem das Erdbeben passiert ist, befassen sich alle Ausländerbeiräte, viele Organisationen und NGOs nur noch damit, humanitäre Hilfe zu leisten. Alleine im Landkreis Offenbach leben Tausende Migranten aus der Türkei, die Verwandte in der betroffenen Region haben.

Viele Verwandte wollen nun ihre Angehörigen nach Deutschland holen. Die Bundesregierung hat Visaerleichterung für Menschen aus dem betroffenen Erdbebengebiet in der Türkei und Syrien angekündigt. Wie praxistauglich sind die?

Es ist beschämend für unser Land und für die Bundesregierung, hierbei von Einreiseerleichterungen zu sprechen. Diese vermeintlichen Erleichterungen sind eine Farce.

Warum?

Es fängt schon damit an, dass die Betroffenen online ein Antragsformular ausfüllen sollen. Es geht um Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben und auf der Straße oder in einem Zelt wohnen. Außerdem soll man einen Pass oder zumindest einen vorläufigen Pass vorlegen. Wie stellt man sich das bitte vor? Sollen die Menschen unter die Trümmer ihres Hauses kriechen, um danach zu suchen?

Angehörige von in Deutschland lebenden türkeistämmigen Menschen brauchen neben dem Pass einen Nachweis des Verwandtschaftsgrads und eine Krankenversicherung. Ist es möglich, an diese Dokumente zu kommen?

Diejenigen, die diese Liste aufgestellt haben, sollten versuchen, für eine 80-Jährige hier in Deutschland eine Krankenversicherung zu organisieren. Dann werden sie die Erfahrung machen, wie lange das dauert, wie schwer und kostspielig das ist. Das ironischerweise Allerbeste ist jedoch, dass die aufnehmende Person vorab eine Verpflichtungserklärung bei einer Ausländerbehörde abgeben soll. Seit Monaten stehen diese Behörden in der Kritik, weil es unmöglich ist, dort schnell einen Termin zu bekommen. Und über eine Zustellung in die Türkei wollen wir erst gar nicht reden. An welche Adresse denn?

Den ukrainischen Staatsbürger:innen wurde schnell geholfen. Warum klappt das bei türkischen Staatsbürger:innen nicht?

Genau da haben wir gesehen, dass unbürokratische Hilfe funktioniert. Und wie auch die Bereitschaft aussehen kann, um diese Hilfe zu gewähren. Niemand hat Ukrainerinnen und Ukrainer nach Krankenversicherungen oder Papieren gefragt. Sie haben die Hilfe bekommen, die sie gebraucht haben. Das begrüße ich ausdrücklich. Bei Menschen, die aus einer anderen Gegend dieser Welt kommen, sehen wir leider, dass die gesamte Bürokratie wieder hochgefahren wird.

Wie könnte man die Bedingungen an die Realität anpassen?

Es gibt in der Türkei den Identitätsnachweis. Bei der Digitalisierung ist die Türkei in dieser Hinsicht Deutschland weit voraus. In jeder Stadt können sie in Meldebehörden, wenn sie ihre Ausweisnummer vorlegen, sofort einen solchen Identitätsnachweis bekommen. Auf dem stehen Geburtsdatum, Verwandte und Verwandtschaftsgrade. So ein Papier zu erlangen, wäre machbar. Die Menschen kommen ja nicht ohne verwandtschaftlichen Bezug nach Deutschland. All die Formalitäten könnte man nachholen, wenn die Verwandten bei ihren geliebten Menschen sind. Hier wiederholt sich übrigens die Geschichte.

Wie meinen Sie das?

Ähnliches haben wir auch bei dem Erdbeben 1999 erlebt. Seinerzeit wurde mehr oder weniger die gleiche bürokratische Vorgehensweise von den Betroffenen gefordert und als vermeintliche Einreiseerleichterung dargestellt. Wir wissen von damals, dass es kaum Menschen geschafft haben, über diesen Weg zu ihren Verwandten zu kommen. Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung noch einlenkt und in dieser humanitären Katastrophe echte Hilfe leistet. Was hier verlangt wird, ist nur dazu da, es unmöglich zu machen.

Interview: Timur Tinç

Enis Gülegen, Vorsitzender der Agah – Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen
Enis Gülegen, Vorsitzender der Agah – Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Hessen © Privat

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