Der Weg zum Nordischen Modell

Die Wiesbadener Frauenbeauftragte kämpft für eine Gesellschaft ohne Prostitution und möchte nach dem Vorbild Schweden für Freier Bußgelder verhängen. Die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen steigt stark an.
Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis Freier in der hessischen Landeshauptstadt öfter mit Bußgeldern bestraft werden, wenn sie bei unerlaubter Prostitution erwischt werden. Etwa in einer Wohnung im Sperrbezirk, wo Prostituierte dem Gewerbe nachgehen, obwohl dies dort nicht gestattet ist. Bislang mussten stets die Prostituierten zahlen.
Die Frauenbeauftragte Saskia Veit-Prang setzt alles daran, dass die Stadt Wiesbaden dem „Nordischen Modell“ in der Prostitution so nahe wie möglich kommt. Freier sollen kriminalisiert werden, nicht die Prostituierten. In Schweden ist der Kauf von Sex seit 1999 verboten. Findet er dennoch statt, wird der Freier bestraft, die Prostituierte verschont. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass käuflicher Sex immer eine Form von Gewaltausübung ist. In Deutschland ist Zuhälterei erlaubt, so lange keine Ausbeutung besteht.
„Eine aktuelle wissenschaftliche Studie der Bundesregierung belegt drastisch, dass neun von zehn prostituierten Frauen sich einen Ausstieg aus der Prostitution wünschen und dass sie dauerhafte Gewalt erfahren“, räumt Veit-Prang kürzlich vor dem Wiesbadener Parlament mit dem Vorurteil auf, Prostitution sei ein normaler Beruf. Sie beschäftigt sich seit 30 Jahren mit dem Schutz von Prostituierten. 2016 hat sie als Bundessprecherin der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten das neue Gesetzgebungsverfahren begleitet. „Prostitution ist fast immer geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und geht oft mit organisierter Kriminalität einher“, sagt sie.
Das Prinzip des Nordischen Modells lässt sich nicht komplett in Wiesbaden umsetzen, solange die Bundesregierung nicht entsprechende Gesetze erlässt. Aber es gibt Spielräume. Als während des Corona-Lockdowns Prostituierte wegen der geschlossenen Laufhäuser auf Hotels auswichen, seien in Wiesbaden die Hotelbetreiber:innen zur Kasse gebeten worden, wenn der Ort aufflog, und nicht die Prostituierte, berichtet Veit-Prang der FR. In vielen anderen Städten seien die Frauen bestraft worden. Diesen Einstieg in die Freierkriminalität möchte Veit-Prang unbedingt fortsetzen. Auch Leipzig und Mannheim gehen diesen Weg. Nachdem Wiesbaden vor einem Jahr beschloss, die 2017 von Deutschland ratifizierte Istanbul Konvention umzusetzen, hat die Frauenbeauftragte mehr Möglichkeiten, gegen Prostitution vorzugehen. Sie hat ein Budget, mit dem sie zusätzliches Personal bezahlen kann.
Das interdisziplinäre Netzwerk, in dem in Wiesbaden alle beteiligten Behörden und Institutionen seit vielen Jahren zusammenarbeiten, und das solche unerlaubten Prostitutionsorte aufspürt, gilt bundesweit als beispielgebend. Ihm gelingt es zudem, Konzessionen für Bordelle, die Arbeitsgenehmigungen der Prostituierten und die Auflagen zur Hygiene und Gesundheit zu überprüfen. Aber das Dunkelfeld der illegalen Prostitution ist groß, immer wieder werden neue Schlupflöcher gesucht. „Die Mehrheit der Frauen kommt aus den Armenhäusern Europas“, vorwiegend aus den ethnisch marginalisierten Minderheiten Roma und Bulgartürken, erklärt Veit-Prang. Sie stammten oft aus dysfunktionalen Familienverhältnissen und hätten sexuelle, körperliche und emotionale Gewalt erfahren.
Eine Sozialarbeiterin „aus der Community“ werde nun dabei sein, wenn Polizei oder Sozialarbeiter:innen Orte besuchten, wo Mädchen und Frauen ihre Körper verkaufen. Dort würden „Angebote“ gemacht, Hygienepäckchen mit Mundwasser und Intimlotion verschenkt, Ratschläge für die medizinische Versorgung gegeben und Gespräche angeboten. Das Konzept sei mit Fachleuten aus Schweden erarbeitet worden. Im Sommer soll das Pilotprojekt anlaufen. Weitere Details möchte die Frauenbeauftragte nicht nennen, um die Zuhälter nicht zu warnen.
Sorgen bereiten aktuell immer brutalere Formen von Prostitution. Wie in ganz Deutschland steige auch in Wiesbaden die Zahl Minderjähriger, die sexuell ausgebeutet werden, stark. Das Phänomen sei erst kürzlich in diesem Ausmaß aufgetreten. „Wir haben noch keine Handlungsstrategie für dieses ernste Problem“, bedauert Veit-Prang. „Das durchschnittliche Einstiegsalter in die Prostitution liegt bei 13 Jahren“, erklärt sie, etliche Kinder müssten also deutlich jünger sein.
Um Lösungsansätze zu finden, wie die Stadt gegen die sexuelle Ausbeutung der Kinder und Jugendlichen vorgehen kann, plant Veit-Prang für Oktober 2022 in Wiesbaden eine Fortbildung mit Vertreter:innen der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung. Von der Bundesregierung gestellte Fachleute werden Vorträge halten.
Im Mai 2023 soll es in Wiesbaden zudem einen schwedisch-deutschen Fachaustausch geben mit dem Ziel, Aspekte des Nordischen Modells auch in Deutschland mit den hier geltenden Gesetzen umzusetzen. Für Freier könnten Besuche bei Prostituierten dann deutlich teurer werden.
Mehr Maßnahmen gegen Prostitution möglich
Pilotprojekt soll ab Sommer Möglichkeiten erproben