Das Energiebündel

Die Kandidaten bei der Landratswahl am 4. Juni / Heute: Özlem Bumin
Main-Taunus - Özlem Bumin traut sich was zu. Das hat sie früh gelernt. Ihr Vater sei gestorben, als sie 14 Jahre alt war, sagt sie. Von der türkischen Schwarzmeerküste stammten die Eltern, in Köln hatten sie sich ihr gemeinsames Leben aufgebaut. Als die Frau mit den drei Töchtern dann allein zurückblieb, war Özlem als Älteste gefordert. Weil die Mutter kein Deutsch sprach, habe sie etwa mitgehen müssen zu Elternabenden in die Schule, erzählt die 52-Jährige. Dass ihre Mama dann sehr schnell Deutsch gelernt habe, eine Arbeit fand und die Kinder allein groß zog, diese Energieleistung bewundert die Tochter bis heute. Sie hat ihr gezeigt, was alles geht - mit Mut, mit Willen und mit Selbstvertrauen.
Das Beispiel der Mutter hat Özlem Bumin auch inspiriert, andere Frauen mit Migrationshintergrund Mut und Möglichkeit zu geben, sich nicht nur um Haushalt und Kinder zu kümmern. Sie selbst ist nach dem Abitur von der Zentralstelle zur Vergabe von Studienplätzen (ZVS) nach Gießen zum Betriebswirtschaftsstudium geschickt worden. Dass sie dabei den Mann fürs Leben fand, hat am Ende dafür gesorgt, dass es mit der geplanten Rückkehr in die Kölner Heimat nichts geworden ist. Denn weil er nach dem Studienabschluss etwas schneller als sie einen Job fand, ging’s ins Rhein-Main-Gebiet. Nach eineinhalb Jahren Pendlerdasein zog das Paar nach Hattersheim. Mit dem ersten Kind gab die zweifache Mutter ihren Job im Marketing bei einem Pharmaunternehmen auf und übernahm die Familienarbeit. Weil die Wohnung mit dem zweiten Kind zu klein wurde und sich in Hattersheim nichts anderes fand, ging die Familie nach Zeilsheim. „Als mein Sohn in den Kindergarten kam, wurde mir ein bisschen langweilig“, erzählt Bumin. Also hat sie sich umgesehen und bald das ein oder andere entdeckt, wo es in ihren Augen „Änderungsbedarf“ gab. „Ich bin offen und gesprächig“, weiß die energiegeladen wirkende Frau. Ihre erste Aktion: Auf einem Spielplatz organisierte sie ein internationales Frauenfrühstück, damit die Mütter sich kennenlernen konnten.
Seitdem hat sie ehrenamtlich viele Projekte entwickelt und umgesetzt, immer mit dem Ziel, Frauen oder auch Kindern zu zeigen, dass mehr in ihnen steckt und sie sich etwas zutrauen können. Das blieb auch nach dem Umzug zurück nach Hattersheim ins eigene Reihenhaus so. „Meine Kinder werden selbstständig“, hat Özlem Bumin dann gemerkt und für sich festgestellt, „nur Projekte im Ehrenamt reichen mir nicht.“ Auch beruflich wollte sie aber nun lieber im sozialen Bereich tätig sein und trat eine Stelle als Job-Profilerin im Job-Center des Main-Taunus-Kreises an. Nach einigen Jahren wechselte sie nach Wiesbaden, wo sie sich seither in Vollzeit um Jugendliche auf Ausbildungssuche kümmert. Zur Politik kam Özlem Bumin spät. Die rassistisch motivierten Morde von Hanau nennt sie als Auslöser. „Wo kann ich am besten etwas machen?“, hat sie sich gefragt und nach kurzer Orientierung ihre politische Heimat dort gefunden, wohin schon ihre Eltern neigten, bei der SPD. Den 1. Mai für die Partei in Hattersheim zu organisieren, war ihre erste Aktion. Im Vorstand ist sie in ihrer Heimatstadt auch dabei. Im vergangenen Jahr hat sie sich gesagt: „Ich pack das Ding mal von ganz oben an“, und sich als Landratskandidatin bei ihrer Partei gemeldet, die sie prompt auf den Schild hob. Nun will sie „Geschichte schreiben“, wie sie sagt - als erste Landrätin des Main-Taunus-Kreises. Als erste Frau, die sich um dieses Amt bewirbt, ist ihr dieser Eintrag in der Kreis-Historie immerhin schon sicher.
SECHS FRAGEN, SECHS ANTWORTEN
Sechs kurze Zusatzfragen gab’s noch. Die Antworten von Özlem Bumin:
Ihr Lieblingsfach in der Schule?
Mathe.
Ihr Vorbild in der Gegenwart?
Meine Mama - eine starke Frau.
Eine aktuelle Lese-Empfehlung?
Die Leiden des jungen Werther von Goethe. Ich mag es, und das lesen wir gerade wieder in meiner Literaturgruppe.
I hre Social-Media-Affinität auf einer Skala von eins bis zehn?
Derzeit acht.
Ihr Lieblingsplatz im MTK?
Die Weilbacher Kiesgruben.
Ein unerfüllter Traum?
Ich möchte gern einen Kindergarten oder eine Schule im Osten der Türkei eröffnen - das war schon der Wunsch von meinem Papa. babs
Ihre Art, Dinge anzupacken, kennzeichnet Özlem Bumin als „lösungsorientiert“, das soll neben gutem Zuhören und Kommunizieren auch ihren Führungsstil als Landrätin kennzeichnen. „Zum Glück komme ich nicht aus der Politik“, meint sie, denn so habe sie „wirklich einen ganz anderen Blickwinkel. Den will ich einbringen.“
Bumin, die gern wandert, nimmt mit Rücksicht auf das Klima schon mal das Rad oder geht zu Fuß. Zudem kaufe sie schon lange viel regionale Lebensmittel und wolle immer wissen, woher Kleidung kommt, die sie ersteht.
Gefragt nach den drei ihr wichtigsten Themen für den MTK der Zukunft nennt sie zuerst „das Soziale“, das sie mit einem „Ausbildungscampus“ fördern möchte. Sehr, sehr wichtig sei ihr zum Zweiten die Wirtschaftsförderung, wo sie besonders Start-ups in den Blick nehmen wolle. Weil die Sozialdemokratin bei einem demenzerkrankten Familienmitglied miterlebt hat, wie schwierig es mit Pflege und Unterbringungsmöglichkeiten sei, nennt sie als drittes Thema die Wohnsituation und die Unterstützung von alten Menschen. Wo sie die Zeit für all ihr Engagement her nimmt? „Ich habe keinen Fernseher“, sagt Özlem Bumin lächelnd. „Das macht sehr viel aus.“