Zeugen hatten geschildert, dass die Angeklagte im Tatzeitraum zeitlich orientiert und in der Lage war, Essen zu bestellen. Ebenso soll sie Verwandte und Bekannte, die sie besuchen wollten, mit plausiblen Erklärungen weggeschickt haben. Da die Angeklagte nicht die ganze Woche von der Identitätsstörung beherrscht gewesen sei, hätte sie ihr Kind versorgen können, so die Staatsanwaltschaft.
Die Verteidigung folgte dem psychiatrischen Gutachten und plädierte wegen erheblich verminderter Schuldfähigkeit auf drei Jahre Freiheitsstrafe, an die eine Therapie anschließen sollte. Das Urteil soll am 5. Juli verkündet werden. (dpa)
Urprungsmeldung vom 2. Juni 2022: Rüsselsheim/Darmstadt – Es ist Samstag, 16. Oktober 2021, als Maria R. (Name von der Redaktion geändert) zum letzten Mal ihr Kind badet, es ankleidet und in sein Bettchen legt. Dann schließt sie die Tür zum Zimmer des 13 Monate alten Jungen. Und sie hört auf, ihn zu füttern, ihm zu trinken zu geben und ihn zu wickeln. Zehn Tage später geht bei der Polizei in Rüsselsheim ein Notruf ein: „Bitte schnell, mein Kind ist tot. Es hat zehn Tage nichts gegessen.“ Die Mutter schildert am Telefon, dass sie ihr Kind auf dem Boden liegend gefunden habe, es sei ganz blau und abgemagert, sie habe es ausgezogen und halte es im Arm.
Seit Donnerstag muss sich die 26-Jährige vor der 11. Strafkammer am Landgericht Darmstadt wegen Mordes durch Unterlassen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung verantworten. In Handschellen wird die junge Frau in den Saal geführt. Ihre Augen sind rot und verweint, der Pferdeschwanz ist zerzaust, gebeugt nimmt sie Platz und behält die warme Jacke an. Gleich zu Beginn der Verhandlung verliest ihr Anwalt eine Erklärung, in der sie die Tat gesteht: „Ich wollte bis zum Schluss eine gute Mutter für mein Kind sein, und dass es anders als ich ohne Leid aufwächst.“
Bis heute könne sie sich nicht erklären, warum sie aufhörte, es zu versorgen. „Als ich die Tür schloss, war ich wie in einer anderen Welt.“ Mit dem Hinlegen des Kindes sei ein Schalter umgelegt worden. Anders als es in der Anklageschrift heißt, habe sie nicht das Leid des Kindes wahrgenommen, habe weder sein Weinen noch sein Schreien gehört. Heute bereue sie, dass sie keine Hilfe annahm, sondern sich komplett zurückzog. Sie habe ihr Kind nicht töten wollen, aber sie habe zeitweise das Gefühl gehabt, die Person ihrer Mutter oder ihres Stiefvaters zu sein. Und bei ihnen habe sie Schlimmes erlebt.
Unter Tränen bestätigte dies ihr älterer Bruder. Über die Vorfälle aus der gemeinsamen Kindheit wolle er vor der Öffentlichkeit nicht reden, sagte er. Die Familie stamme aus Portugal. Seiner Aussage nach wurde Maria R. als Siebenjährige vom Jugendamt gemeinsam mit ihren beiden Schwestern in Gewahrsam genommen, nachdem er die Eltern angezeigt hatte. Seither gebe es keinen Kontakt zu ihnen. Während Maria R. und ihre älteste Schwester, deren Aufenthaltsort niemand kennt, in einer Wohngruppe aufwuchsen, kam die jüngste Schwester in eine Pflegefamilie. Auch sie gehörte zu den mehr als 20 geladenen Zeuginnen und Zeugen am ersten Verhandlungstag.
Die 21-jährige berichtete der Kammer unter Vorsitz von Richter Volker Wagner, dass Maria R. eine liebevolle, fürsorgliche Mutter gewesen sei. Allerdings sei ihr aufgefallen, dass sie sich widersprüchlich verhielt: „An einem Tag schickte sie mir Herzchen und sagte, dass sie mich liebt, am nächsten war sie kalt und abweisend.“ Gegenüber ihrem Sohn sei sie aber immer liebevoll und geduldig gewesen. Sie habe jedoch gesagt, sie fürchte, dass sie keine gute Mutter sein könne und dem Sohn auch nichts bieten könne. Offenbar habe sie Geldprobleme gehabt.
Maria R. lebte noch nicht all zu lange in Rüsselsheim. Der Kindsvater hatte sich getrennt, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Zuvor hatte sie in Fulda gewohnt, zeitweise schlief sie auf der Straße, weil sie ihre Wohnung verloren hatte. Ihr Bruder kümmerte sich nach eigenen Angaben seit Jahren um sie. Ihren Sohn habe sie immer fürsorglich behandelt. Er sei gepflegt und gut genährt gewesen - ein „liebes Kind“, habe schon laufen können. Maria habe manchmal „Depri-Phasen“ gehabt, in denen sie sich nicht meldete. So sei es auch in den Wochen vor dem Tod des Kindes gewesen.
„Wir machten uns Sorgen“, sagt ihr Bruder. Doch auf Nachfragen habe sie „alles gut“ geantwortet. Sie habe Ausreden gefunden, warum sie keine Zeit habe. Als er am 24. Oktober bei ihr klingelte, habe sie sich geweigert, ihn in die Wohnung zu lassen, sei patzig und genervt gewesen. Als er nach dem Tod seines Neffen in ihre Wohnung kam, sei er geschockt gewesen. Maria sei zwar nie die Ordentlichste gewesen, doch zuletzt lebte sie in einem Chaos mit verschimmelten Essensresten und Unrat.
Maria R. droht eine Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren. Staatsanwältin Eva Heid sagte der FR, es könne auch auf Totschlag hinauslaufen. Die nächste Verhandlung ist am 3. Juni um 14 Uhr. Weitere Termine sind geplant. (Claudia Kabel)
In einem anderen Prozess geht es um den Tod eines Jungen in einer Hanauer Sekte.