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In einer evangelischen Freikirche aufgewachsen: Wenn der Glaube Angst macht

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Von: Claudia Kabel

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Mit der Bibel will Lara nichts mehr zu tun haben.
Mit der Bibel will Lara nichts mehr zu tun haben. © bambiraptor/Photocase

Eine junge Frau wächst in einer evangelischen Freikirche auf. Sie fühlt sich ihr Leben lang isoliert. Jetzt hat sie eine Selbsthilfegruppe gegründet.

Wenn Lara an ihre Kindheit zurückdenkt, erinnert sie sich vor allem an ihre Angst. „Ich hatte eigentlich immer Angst, dass ich gesündigt habe und dass mir Gott nicht vergibt und ich in die Hölle komme.“ Schon mit zwölf Jahren geriet sie aus heiterem Himmel in Panik. „Dann kriegte ich keine Luft mehr.“ Was die konkreten Auslöser dieser Attacken waren, darüber grübelt die inzwischen 29-Jährige noch immer. Ihren echten Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen.

Sie wuchs in einer strenggläubigen Familie auf. Die Eltern waren Mitglieder in einer evangelischen Freikirche in Nordrhein-Westfalen, einer Baptistengemeinde, deren Namen sie nicht nennen möchte. Schon der Vater war in der Gemeinde groß geworden. Die Mutter, eine Katholikin, konvertierte. Laras älterer Bruder und ihre jüngere Schwester hatten offenbar weniger Probleme mit dem streng christlichen Glauben, wie er im Umfeld gelebt wurde.

Betroffene: „Es war die reinste Gedankenkontrolle“

„Das komplette Leben wurde vom Glauben bestimmt“, sagt Lara. Es ging los mit Krabbelgruppe und Spielgruppe, dann kam sie auf eine christliche Grundschule, es folgten Jungschar und zahlreiche Jugendfreizeiten sowie gemeinsame Aktivitäten innerhalb der Gemeinde. Auch auf dem Gymnasium seien in ihrer Klasse viele Gläubige gewesen, sagt sie. Sonntags ging man in die Kirche, vor jedem Essen betete die Familie. Die Anweisung von der Gemeindeleitung habe gelautet, man solle sich täglich 15 Minuten mit Gott beschäftigen – die sogenannte „stille Zeit“. Für Kinder gab es auch biblische Arbeitsmaterialien. „Die musste man durchackern.“

In sogenannten Hauskreisen traf man sich außerdem am Wochenende in kleineren Gruppen und besprach seine Sünden und Verfehlungen. „Da sollte man laut beten und sagen, was einen beschäftigt.“ Doch sie habe den Druck gespürt, dass es ausgeschlossen sei zu sagen, was sie wirklich denke, erinnert sie sich. Dies habe tiefe Konflikte in ihr ausgelöst. Sie habe an ihren Gefühlen gezweifelt. „Es war die reinste Gedankenkontrolle“, sagt sie heute. Als Sünde habe bereits gegolten, wenn man etwas Negatives über jemanden dachte – selbst wenn man eine Romanfigur unsympathisch fand. „Dann musste man Gott auf den Knien um Vergebung bitten“, sagt sie.

Traditionelle Rollenbilder

Die ersten Zweifel kamen ihr, als ihr Bruder „die cooleren Spielsachen“, etwa Lego oder Eisenbahn, bekam und sie und ihre Schwester mit Puppen „abgespeist“ wurden. Es habe ein traditionelles Rollenbild geherrscht. Die Mädchen sollten Röcke und Kleider tragen und langes Haar. Damit konnte Lara nichts anfangen. Auch fand sie es ungerecht, „dass Frauen so unterdrückt werden sollten“. Mit 15 ließ sie sich ihre Haare kurz schneiden. Das Umfeld war entsetzt.

Auch Medien wurden von ihr ferngehalten. Im Fernsehen durften nur wenige ausgewählte Kindersendungen und diese nur 30 Minuten täglich geschaut werden. Musik gab es nur aus dem christlichen Bereich. Auch hätten sie weder Gameboy noch Spielekonsole gehabt, der PC hatte keinen Internetzugang.

Mit 20 hält Lara es nicht mehr zu Hause aus

Aber auch Müßiggang und Erholung seien verpönt gewesen. „Wenn ich mich nach der Schule ausruhen wollte oder mittags ein Buch las, kam gleich mein Vater und gab mir irgendwelche Arbeiten in Haus und Garten.“ Richtige Freizeit habe sie nicht gehabt. Alles sei von Schule, Gemeindearbeit und Arbeit im Elternhaus ausgefüllt gewesen.

Mit 20 hält Lara es nicht mehr zu Hause aus und beschließt auszuziehen und in Darmstadt ein Studium aufzunehmen. Der Vater sei darüber unglücklich gewesen. Er habe wohl geglaubt, sie bleibe während des Studiums zu Hause wohnen. „Ich wusste, dass ich nie wieder in mein Elternhaus würde zurückkehren können“, sagt sie. Das war die Zeit, als sie anfing, alles zu hinterfragen. „Ich fand es immer so brutal, dass Jesus für meine Sünden gestorben sein soll. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein.“

Anschluss in Darmstadt in anderer freikirchlicher Gemeinde gefunden

Da sie jedoch ganz allein in einer fremden Stadt ist, sucht sie Anschluss in einer der hiesigen freikirchlichen Gemeinden. „Die waren in der Theologie ähnlich, in der Musik etwas lockerer“, sagt sie. „Sie benutzten sogar ein Schlagzeug, obwohl es nicht als biblisches Instrument gilt.“ Auch habe sie als Studentin keine Spenden zahlen müssen, anders als die Berufstätigen, die zehn Prozent vom Einkommen zu leisten hätten. Sie wird Leiterin einer Jugendgruppe der Gemeinde, betreut Acht- bis Zwölfjährige.

Da von jedem Gemeindemitglied erwartet wird, eine ehrenamtliche Aufgabe zu übernehmen, habe man dafür keine pädagogische Ausbildung gebraucht.

Darmstadt: Betroffene gründet Selbsthilfegruppe für „Sektenaussteiger“

Mit etwa 23 Jahren werden Laras Zweifel an ihrem Glauben immer größer. Gleichzeitig wird ihr bewusst, dass sie lesbisch ist. Auch das gilt – wie Sex vor der Ehe – als Sünde. Sie versucht, ihre Gefühle zu unterbinden, sich zu belügen, doch es klappt nicht mehr. Trotzdem bleibt sie in der Gemeinde engagiert, fühlt sich verantwortlich für die Kinder in ihrer Gruppe. Sie beginnt jedoch, kritische Fragen zu stellen, und regt ihre Schützlinge an, darüber nachzudenken, ob es wirklich eine Hölle geben kann oder ob nach dem Tod vielleicht gar nichts komme. Mit acht Jahren würden jedoch die Kinder bereits die ganze Theologie kennen. „Sie waren total perplex, es fiel ihnen schwer, sich etwas vorzustellen, das nicht ihrem biblischen Glauben entsprach.“ Laras „falscher Glaube“ kommt jedoch heraus und wird dem Gemeindevorstand gemeldet. Daraufhin habe man ihr nahegelegt, ihr Amt abzugeben. „Das war für mich der Punkt, wo ich sagte, dann ohne mich.“

Das war vergangenes Jahr.

Inzwischen hat Lara eine Selbsthilfegruppe für Sektenaussteiger:innen über den Paritätischen gegründet. Ob es sich bei ihrer Glaubensgemeinschaft per Definition um eine Sekte handelt, weiß sie nicht. Was sie aber sicher wisse, sei, dass sie in Isolation lebte und emotional missbraucht worden sei, sagt sie. Sie wolle nun anderen helfen, die Ähnliches erlebt hätten und Zweifel hegten. Denn die Gemeinschaften seien so aufgebaut, dass man sehr leicht hineinkomme, da sie attraktive Angebote machten – gerade für Kinder. Für die gebe es jedoch kaum eine Möglichkeit, das aufgezwungene Weltbild zu hinterfragen. „Dort findet eine Gehirnwäsche statt.“

Kontakt zur Selbsthilfegruppe: Telefon 06151 / 850 658 0 oder E-Mail an: selbsthilfe.darmstadt@paritaet-projekte.org

Zum Weiterlesen: Interview mit zwei Geistlichen: „Die christliche Botschaft ist keine Drohbotschaft“

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