Kinder morgens mit der Polizei geholt: Familie kämpft um Sorgerecht

Das Jugendamt Darmstadt-Dieburg nimmt fünf Kinder aus einer Familie heraus. Die Eltern kämpfen darum, sie zurückzubekommen. Doch es gibt viele Ungereimtheiten.
Dieburg – Es ist der haarsträubendste Fall von Kindesinobhutnahme, den der Frankfurter Rechtsanwalt und Gutachter in Familienangelegenheiten Georg Königstein seinen Worten nach bisher erlebt hat. Am 2. August diesen Jahres, einem Montag, stehen plötzlich morgens um halb sieben vier Polizeibeamt:innen im Haus der Familie K. im südhessischen Dieburg. Weil der Vater, Waheed K., schläft und das Klingeln nicht hört, öffnet ein Schlüsseldienst die Haustür. „Die Polizisten gingen sofort in die Kinderzimmer“, sagt Waheed K. Er selbst sei in seinem Schlafzimmer eingesperrt worden.
„Zieht Euch an, wir gehen spielen“, soll ein Polizist zu den Kindern gesagt haben. Und dann: „Wisst Ihr, wo Eure Krankenkärtchen und Impfpässe sind?“ Die fünf Geschwister im Alter von 13, 11, 10, 5 und 4 Jahren wissen es nicht. Ihre Mutter ist an diesem Morgen nicht zu Hause. Dass die 33-Jährige trotzdem den Ablauf minutiös kennt, liegt daran, dass die Familie das gesamte Haus per Video überwacht. „Die Kinder sollten alleine ihre Kleidung zusammenpacken, mein Mann durfte ihnen nichts helfen – wie kann eine Vierjährige das alleine schaffen?“, fragt Mutter Yvonne K. Sie wirkt verzweifelt, resigniert. Später wird das Jugendamt in seinem Bericht festhalten, die Kinder seien schlampig gekleidet gewesen, eine Tochter hätte keine Unterhose getragen. Die zusammengepackte Kleidung habe nicht gepasst.
Als die Kinder dann getrennt in verschiedene Unterkünfte gebracht werden sollen, wehrt sich der älteste Sohn beim Einsteigen ins Auto. Ein Polizist soll dabei handgreiflich geworden sein, behaupten die Eltern. Beim Polizeipräsidium Südhessen weiß man davon nichts. Ein 13-jähriges Kind habe verbal geäußert, dass es mit der Trennung von den Geschwistern nicht einverstanden sei, teilte die Pressestelle des Polizeipräsidiums Südhessen auf Anfrage mit. Die Beamten hätten diesem „altersgerecht die Notwendigkeit der Unterbringung erklärt“.
Darmstadt-Dieburg: Kinder durften Eltern nur einmal in zwei Monaten sehen
Daraufhin habe sich das Kind einverstanden erklärt. „Dass eines der fünf Kinder in diesem Zusammenhang durch eine polizeiliche Maßnahme verletzt worden sein soll, ist der Polizei nach derzeitigem Stand der Erkenntnisse nicht bekannt.“ Auch hätten sich die Kinder vom Vater verabschieden können, „zum Schutz aller Beteiligten fand dies kontaktlos statt“. Die Eltern wollen dennoch Strafanzeige deswegen stellen.
Doch zunächst haben die K.s andere Sorgen. Mehr als zwei Monate sind ihre Kinder nun weg und der Kontakt zu ihnen wird nicht in dem Maße gewährt, wie dies vorgeschrieben ist, sagt Königstein, der die Eltern vertritt. Normalerweise dürften Eltern alle zwei Wochen für mehrere Stunden ihre Kinder sehen. Das sei „das niedrigste Niveau“. In diesem Fall seien es aber nur einmal 45 Minuten in zwei Monaten gewesen. „Da steckt System dahinter, die Kinder sollen entfremdet werden“, sagt Königstein.
Doch zunächst gehe es darum, dass Sorgerechtsverfahren zu gewinnen. Danach könne man auf Schadenersatz klagen. Eine Verhandlung vor dem Familiengericht ist für Ende Oktober terminiert. „Bis dahin dürfen wir unsere Kinder nicht mehr treffen, das hat uns das Jugendamt geschrieben“, sagt die Mutter. Immer wieder muss sie ihre Tränen zurückdrängen. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die fünf Kinder den Eltern weggenommen wurden und dass dafür nun monatliche Unterbringungskosten von 36.000 Euro fällig werden? Davon wird laut Jugendamt den Eltern je nach Einkommen ein Kostenanteil berechnet – sind die Eltern nicht in der Lage, zahlt der Landkreis Darmstadt-Dieburg.

Familie kämpft um Kinder: Jugendamt Darmstadt-Dieburg „prüft jeden Fall intensiv“
Zum laufenden Verfahren schweigt das Jugendamt. Auf Anfrage der FR heißt es: „Das Jugendamt prüft in jedem Einzelfall intensiv, ob eine Inobhutnahme verhältnismäßig und erforderlich ist, um den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen. Solche Entscheidungen werden niemals leichtfertig getroffen und haben stets die Schutzbefohlenen im Fokus.“
Hört man die Geschichte aus Sicht der Eltern, kommt man zu dem Schluss, dass sie Opfer einer Verkettung unglücklicher Umstände wurden. Waheed K. erlitt 2015 einen Arbeitsunfall, bei dem er mit Chemikalien vergiftet wurde. Er ist seitdem arbeitsunfähig und muss regelmäßig zur Blutwäsche nach Cham in Bayern in eine Spezialklinik. Dort übernachtet das Ehepaar zum wiederholten Male in einem Hotel. Das Zimmer entspricht diesmal jedoch nicht dem gebuchten, die K.s wollen nicht den vollen Preis zahlen. Man überwirft sich mit dem Hotel. Der Betreiber erstattet Anzeige wegen mutmaßlichen Betrugs. Eine Verhandlung in Bayern wird anberaumt. Doch an besagtem Termin im Juli können die K.s nicht dorthin reisen, weil in der Klasse des Sohnes ein Covid-19-Fall festgestellt wird und alle in Quarantäne müssen. Die Schule verpasst es laut Schilderung der K.s, dies bei Gericht schriftlich zu bestätigen. Daraufhin wird für das Paar eine Sitzungshaft angeordnet.
Davon erfährt das Jugendamt in Dieburg, das die Familie seit mehreren Jahren betreut, weil der älteste Sohn Fördermaßnahmen aufgrund einer Sprachentwicklungsverzögerung erhielt. Bei der jüngsten Tochter, die als Frühchen geboren wurde, versäumten die Eltern einen U-Termin. Auch lehnten sie es ab, die Tochter einer freiwilligen Impfung zu unterziehen, weil sie nach der ersten Injektion eine starke Gegenreaktion mit Sauerstoffabfall gezeigt habe. „Die Ärztin bezeichnete mich als Kindermörderin, seitdem hat das Jugendamt uns auf dem Kieker“, ist die Mutter überzeugt.
Familie aus Darmstadt-Dieburg kämpft vor Gericht um die eigenen Kinder
An jenem Morgen, als die Kinder geholt wurden, wurde auch der Vater festgenommen, wie die Polizei bestätigte. Er kam jedoch nach zwei Tagen wieder aus der Haft frei, weil er auf Grund seiner Erkrankung für haftunfähig erklärt wurde. Yvonne K., gegen die noch ein anderes Verfahren wegen einer Streitigkeit über einen Verkauf über ein Online-Portal lief, musste zwei Monate im Frauengefängnis in Frankfurt bleiben. Inzwischen seien diese Verfahren erledigt, so die K.s. Doch die Kinder bekommen sie trotzdem nicht zurück. Dabei heißt es in der Anordnung des Amtsgerichts Dieburg „die Kinder müssen zumindest für die Dauer der Inhaftierung anderweitig versorgt/betreut werden“.

Die Kinder hätten laut Königstein also spätestens nach zwei Tagen, als der Vater wieder zu Hause war, zurückgegeben werden müssen. „Das Jugendamt Darmstadt–Dieburg hantiert hier offenkundig völlig überzogen und unverhältnismäßig“, so der Rechtsanwalt. Die Inobhutnahme hätte sich zudem vermeiden lassen, da alternative Betreuungsmöglichkeiten in der Familie bestünden. Dies belegen schriftliche Erklärungen von Familienangehörigen des Vaters, die der FR vorliegen. Darin erklären sich Großmutter, Tante und Onkel bereit, die Kinder zu betreuen. Doch das Jugendamt ignorierte diese Möglichkeit offenbar.
Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren. Laut Königstein handelt es sich hierbei allerdings nicht um einen Einzelfall. Seitdem die Kinderheime privatisiert worden seien, hätten Inobhutnahmen massiv zugenommen. Es finde ein regelrechtes Denunziantentum statt, sobald Eltern sich kleinste Fehltritte erlauben würden. Zudem bestehe der Bedarf, die Heimplätze zu füllen, da sich hier bares Geld verdienen lasse. Allein bis Oktober seien für die Unterbringung der fünf Kinder mehr als einhunderttausend Euro fällig geworden. „Und alles das auf Kosten der Steuerzahler, auf Kosten der Kinder und Eltern sowieso. Mit welchem Recht?“ Davon abgesehen seien die psychischen Folgen für die Kinder nicht absehbar, so Königstein. Eine posttraumatische Belastungsstörung sei das Mindeste, das sie davontragen würden.
Familie aus Darmstadt-Dieburg sorgt sich um ihre Kinder: „Die werden dort manipuliert“
Inzwischen wurden die Kinder für eine Weile zusammen untergebracht, kürzlich wurde jedoch das jüngste Geschwister, die vierjährige Tochter, alleine in ein anderes Heim gebracht. Wo sich ihre Kinder befinden, wird vor den Eltern geheimgehalten.
Dass die Kinder sich bereits anders verhalten als bisher, besorgt die Eltern sehr. Sie fürchten, dass ihnen die Kinder systematisch entfremdet werden. Auch seien sie in der Unterbringung möglicherweise unter Medikamente gesetzt worden, weil sie sich auffällig ruhig verhalten hätten und ihre Sprache am Telefon zeitweise „lallend und undeutlich“ gewesen sei. Auch gingen sie abends früh schlafen, ohne irgendetwas zu träumen, wundert sich die Mutter. „Ich habe meine Töchter nicht wieder erkannt, ihr Sprache war so undeutlich.“ Und ihr Mann ist überzeugt: „Die werden dort manipuliert.“
Der ehemalige Zweiradmechaniker sagt, aus den Telefonaten gingen viele Ungereimtheiten hervor. Widersprüchliche Angaben des Betreuungspersonals etwa zum Entwicklungsstand der Kinder, das Verbot, dass der älteste Sohn der jüngsten Schwester nicht vorlesen durfte, wie sie es von zu Hause gewohnt waren, während die Betreuer sagten, die Kinder hätten nicht gewollt. Auch würden Pakete mit Spielsachen und Kleidung, die die Eltern den Kinder versuchen zukommen zu lassen, zurückgesendet, ohne dass die Kinder um die Bemühungen der Eltern wüssten. „Um sie zu trösten, sagte ich zu meiner Tochter, schau doch abends zum Mond, Mami schaut dann auch hin.“ Doch es sei nicht erlaubt, die Jalousien zu öffnen, habe ihre Tochter geantwortet, so Yvonne K.. Auch würden die beiden ältesten Söhne seit Monaten nicht die Schule besuchen.
Darmstadt-Dieburg: Jugendamt unterbricht Gespräche zwischen Eltern und Kindern
Die wenigen Telefonate, die die Eltern führen dürfen, fänden unter Aufsicht statt und würden abgebrochen, wenn heikle Themen berührt werden, berichtet Waheed K. Als er einmal seinen ältesten Sohn anwies, er solle der jüngsten Tochter abends vorlesen, weil sie kränkelte, habe eine Frauenstimme gesagt: „Ich beende das Gespräch jetzt. Sie instruieren die Kinder. Sie geben nicht die Regeln unserer Einrichtung vor.“
Laut Rechtsanwalt Königstein unterstellt das Jugendamt, der Vater sei körperlich nicht in der Lage, sich um seine Kinder zu kümmern. Seine Ärztin kann dies nicht nachvollziehen. Er könne alle anfallenden Arbeiten erledigen, schreibt sie. Sie habe ihn als „liebenden fürsorglichen Vater kennengelernt“. Beide Eltern seien „rührend um die Kinder bemüht“. Sie bezeichnet die K.s als „perfekte Familiengemeinschaft“. Auch der Zahnarzt der Kinder betont, dass bei ihnen regelmäßige Kontrollen stattfanden und es „positiv auffällig“ gewesen sei, wie gut die Eltern die Kinder auf die Termine vorbereitet hätten und dass sie sich immer für die hochwertigsten Füllungen entschieden hätten. Alle Aussagen liegen der FR vor.
„Es ist jetzt ein totes Haus“: Eltern aus Darmstadt-Dieburg kämpfen um ihre Kinder
„Das Jugendamt wirft uns vor, wir würden uns nicht genügend um die Kinder kümmern, würden in einem Messie-Haushalt leben“, sagt Yvonne K. Schaut man sich in dem weißgetünchten Einfamilienhaus in Dieburg um, kann man diese Vorwürfe kaum nachvollziehen. Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer, liebevoll und individuell gestaltet. Es mangelt nicht an Dinofiguren, Legosteinen, Robotern, Püppchen und Büchern und im Kleiderschrank hängt fast nur Markenkleidung. Überall im Haus hängen Fotos, die lachende, strahlende Kindergesichter zeigen.
Anblicke, die die Eltern jetzt nicht mehr ertragen. Sie sind nur für den Termin mit der FR in das Haus gekommen, in das sie vor sechs Jahren zogen, damit die Kinder mehr Platz und einen Garten haben. „Wir fahren jetzt gleich wieder zu unseren Familien“, sagt Waheed K. Die Stille im Vergleich zum früheren Leben, das hier herrschte, sei nicht auszuhalten, sagt seine Frau. „Es ist jetzt ein totes Haus.“ (cka)
Transparenzhinweis: In einer früheren Fassung war der Fall der Familie mit mehr Details als Beleg dokumentiert. Auch wenn dies mit ausdrücklicher Genehmigung der Eltern geschah, haben wir zusätzliche Abstrahierungen und Anonymisierungen vorgenommen, um die Familie bestmöglich zu schützen.
Inobhutnahme durch Jugendämter in Deutschland
Die Jugendämter in Deutschland führten 2019 rund 49.500 vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, sogenannte Inobhutnahmen, durch.
Das waren zwar knapp 3100 Fälle und somit sechs Prozent weniger als im Vorjahr. Hintergrund ist ein erneuter Rückgang von Schutzmaßnahmen nach unbegleiteter Einreise aus dem Ausland: Deren Zahl sank im Vergleich zum Vorjahr um 29 Prozent auf gut 8600 Inobhutnahmen.
Währenddessen stieg die Zahl der Schutzmaßnahmen aus anderen Gründen um ein Prozent auf rund 40.900 Fälle an. Damit setzt sich langfristig ein Trend fort: In den letzten zehn Jahren sind die Inobhutnahmen aus anderen Gründen mit leichten Schwankungen um 30 Prozent angestiegen – von rund 31.500 Fällen im Jahr 2009.
Im Landkreis Darmstadt-Dieburg wurden 2020 insgesamt 164 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen.
Sie blieben im Durchschnitt einen Monat. Hauptgründe waren körperliche und emotionale Vernachlässigung, psychische und körperliche Gewalt oder sexualisierte Gewalt.
Die Inobhutnahmestellen und Pflegefamilien werden in der Jugendhilfe anlassbezogen und abgestimmt auf die Erfordernisse des Kindes / Jugendlichen ausgewählt. Nach Möglichkeit erfolgt die Unterbringung im Rhein-Main-Gebiet.
Bei Geschwisterkindern erfolgt laut Jugendamt eine genaue Prüfung, ob eine gemeinsame Unterbringung förderlich oder belastend sein wird. Belegt werden unterschiedliche Inobhutnahmestellen und Bereitschaftspflegefamilien.