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Darmstadt: Weinlieferung kommt mit dem Lastenrad

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Michael Bode-Böckenhauer und Alexander Marschall (v.l.) in ihrer Weinhandlung Vinocentral.
Michael Bode-Böckenhauer und Alexander Marschall (v.l.) in ihrer Weinhandlung Vinocentral. © Michael Schick

Morgens Kaffee, abends Wein: Das Vinocentral am Hauptbahnhof Darmstadt ist erneut Weinhändler des Jahres.

Die Gastronomen Alexander Marschall und Michael Bode-Böckenhauer haben in Darmstadt einige der angesagtesten Ausgeh-Locations gegründet. Das Kesselhaus und der Hillstreet Club sind längst Legende. Junges Partypublikum zieht das Weststadt Cafe auch heute noch unter anderer Führung an. Und das Kulturinstitut Centralstation ist mittlerweile ganz in städtischer Hand. Auch ihre jüngste Schöpfung, eine 2012 zum Cage 100-Festival ins Leben gerufene Open-Air Bar in den Grundmauern eines alten Bahnhofgebäudes, wird heute von der Initiative Essbares Darmstadt als ökologisch-kulinarisch-künstlerisches Zentrum genutzt. In dessen Sichtweite am Hauptbahnhof seit mittlerweile über 30 Jahren behalten haben Marschall und Bode-Böckenhauer dabei ihr Vinocentral.

„Das war eigentlich ein Unfall“, erklärt Bode-Böckenhauer. Denn für ihren ursprünglichen Plan, in dem alten Jugendstil-Bahnhofshotel ein Café zu eröffnen, war ihr damaliger Nachbar, die Kneipe Goldenes Fass, nicht zu gewinnen und pochte stattdessen auf ihren Konkurrenzschutz. Aus der Not geboren entstand zunächst ein Gastronomiebedarf mit Schwerpunkt auf Kaffeemaschinen. „Doch wir haben uns dann immer weiterentwickelt.“ Während die Bahnhofskneipe längst den Zapfhahn abgedreht und die Stadt den Vorplatz Anfang der 2000er-Jahre aufwendig saniert hat, ist das Vinocentral zu einer Mischung aus Café, Weinhandel und Selbstbedienungs-Restaurant mit italienischen Spezialitäten gewachsen.

„Unser Alter spiegelt immer ganz gut wider, was wir so machen“, sagt der 56-jährige Bode-Böckenhauer. Morgens um acht Uhr bekommen bei ihm Pendler Kaffee aus eigener Röstung, dazu ein belegtes Ciabatta-Sandwich. Die Büroarbeiter aus den Workspaces der umliegenden Agenturen stellen sich mittags an der Feinkosttheke Teller mit eingelegten Oliven, Wildschwein-Salami und Cascio Fresco-Käse zusammen. „Und am Abend verabreden sich die Leute hier auf ein Glas Wein“, sagt Bode-Böckenhauer. Bis 22 Uhr sind rund 50 verschiedene Etiketten für den Ausschank geöffnet, das billigste 0,1-Liter-Glas als wechselnder Wein des Monats zu 3,50 Euro. Auch die weiteren 1600 Flaschen im Ladenverkauf aus hauptsächlich Italien, Frankreich und Deutschland können die Gäste für ein aufgeschlagenes Korkgeld von 18 Euro vor Ort genießen.

Der Familienbetrieb, in den Marschall und Bode-Böckenhauer unter den rund 40 Angestellten auch ihre Ehefrauen und Kinder eingespannt haben, heimst seit einigen Jahren diverse Preise ein. Die Kür zum Weinhändler des Jahres 2017 durch das Branchenmagazin Weinwirtschaft „war unser Durchbruch für den Webshop“, berichtet Marschall. Rund ein Drittel des Umsatzes macht der Onlinehandel mittlerweile aus. Kaffeerösterei und Weinlager sind deshalb nun in einem Lagerhaus in Nähe der Telekom-City ausgelagert. In diesem Jahr folgte die erneute Auszeichnung durch die Weinwirtschaft, diesmal in der Kategorie Nachhaltigkeit.

Veranstaltungen

Das Vinocentral widmet am Samstag, 4. Februar, der Pfalz einen Weinabend. Zur Probe stehen 16 Weine von Altmeistern wie Christmann und Knipser bis zu Newcomern wie Johannes Jülg und den Brüder Rings. Dazu gibt es Saumagen von der Wachenheimer Metzgerei Hambel, von der auch Helmut Kohl sein Lieblingsessen bezog und es Staatschefs servieren ließ. Eintritt frei. Probierkarten zu drei mal 0,1 Liter sind für 17, 20 und 26 Euro erhältlich. Vinocentral, Platz der Deutschen Einheit 21, Darmstadt.

Infos unter: vinocentral.de

„Urknall der Kunst“: Zu der am 24. März anlaufenden Ausstellung im Hesssischen Landesmuseum Darmstadt präsentiert das Vinocentral in den Innenhöfen des Museums am Samstag, 17. Juni, Quevri-Weine aus der Wiege das Weinbaus Georgien und reinhessische Naturweine. Dazu serviert die Museumsgastronomie „Herzblut und Zinke“ – Speisen, inspiriert von der georgischen Tafel sowie der Paleo-Küche. Karten für 20 Euro inklusive drei Weinen und Eintritt in die Ausstellung sind 15. Februar unter hlmd.de zu haben.

Denn bei der Auswahl der Winzer:innen achten die Kompagnons nicht nur auf biologischen Anbau. „Wir suchen den Unterschied, dass der Wein handwerklich auch so hergestellt wird, wie wir uns das vorstellen“, sagt Bode-Böckenhauer. „In Handlese, Spontanvergärung und einem sparsamen Umgang mit Schwefel.“ Um eine Beziehung zu den Winzer:innen aufzubauen, würden sie auch mal bei der Ernte mithelfen. „Da stehen wir mit 20 Leuten, brauchen drei Stunden, um die Beeren mit der Hand zu selektieren, und am Weinberg nebenan fährt der maschinelle Vollernter in einer Stunde durch“, berichtet Bode-Böckenhauers Ehefrau Janne Böckenhauer, die im Marketing tätig ist.

Solche Edelerzeugnisse haben allerdings ihren Preis. Für knappe zehn Euro finden sich nur eine Handvoll Flaschen im Sortiment, die meisten sind deutlich teurer. Auch der halbe Liter Olivenöl „The One“ von Comincioli kostet 45,90 Euro. Relative Schnäppchen finden sich dafür in der „Schatzkammer“ des Vinocentrals. Während manche Raritäten auf dem Sekundärmarkt horrende Gebote aufrufen, versuchten sie ihre zurückgelegten Jahrgänge den Kennern für „wie wir finden faire Preise“ anzubieten, so Bode-Böckenhauer.

Den längst vergriffenen Spätburgunder Dernauer Hardtberg 2019 von Bertram-Baltes an der Ahr, wo zudem durch die Flutwelle vieles verloren gegangen ist, bietet das Vinocentral statt zum ehemaligen Hof- wie Ladenpreis von 39 Euro für mittlerweile 65 Euro an – allerdings nur zum Verzehr vor Ort. „Wir wollen das Spekulationsgeschäft nicht mitmachen“, sagt Böckenhauer. „Wein ist zum Trinken da und keine Wertanlage.“

Für die Wege zwischen Lager, Laden und zu ihren Gastrokundinnen und -kunden nutzt das Vinocentral pfiffige Elektro-Lastenräder, von denen sich ein palettengroßer Rollcontainer abseilen lässt. Zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehören auch zwei junge Männer mit Einschränkungen. Einer der Fahrer hat Probleme mit dem lautsprachlichen Ausspruch, und im Service arbeitet ein Mann mit Down-Syndrom. „Wir wollen das nicht Inklusion nennen, sondern Teamwork“, sagt Böckenhauer. „Menschen mit Behinderung sind in der Öffentlichkeit oft nicht sichtbar. Das zu erleben, baut Barrieren ab.“ Dreimal hätten sie sich deshalb für den Hessischen Landespreis für die beispielhafte Beschäftigung und Integration schwerbehinderter Menschen beworben, bis sie ihn 2020 schließlich gewannen. „Das gibt uns die Chance, andere davon zu überzeugen, es uns nachzutun“, freut sich Bode-Böckenhauer.

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