Am Schreibtisch mitten im Geschehen

Digitales Video-Notarztsystem unterstützt künftig Rettungspersonal im Kreis
main-Taunus - Bei etwa 30 bis 40 Prozent der Rettungseinsätze wird wirklich ein Arzt vor Ort benötigt; bei allen anderen Fällen geht es eher um Beratung, Information oder die Absicherung der Medikation“, erläutert Professor Volker Lischke, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst im Hochtaunuskreis. „Doch genau diese Art der Unterstützung können wir auch aus einem Büro weit entfernt leisten!“
Was er beschreibt, nennt sich „Ambulance Video Assistant“ (AVA) und ist ein digitales Kommunikationssystem, das live Audio-, Video- und Vitaldaten überträgt und Rettungspersonal im Einsatz ermöglicht, online einen Notarzt hinzuzuschalten. Voraussichtlich vom nächsten Monat an soll dies im Main-Taunus-Kreis wie auch im Hochtaunus erprobt werden; aktuell ist schon jeweils ein Rettungswagen (RTW) entsprechend ausgestattet.
Immer im jeweils stärksten Netz
Die Ausstattung umfasst neben einer Dome-Kamera an der Decke einen hochleistungsfähigen, industriellen 5G-Router, der „minimalinvasiv“ verbaut wurde, denn für solche sicherheitsrelevanten Anwendungsfälle braucht es eine besonders stabile Verbindung, gerade im ländlichen Raum. Ein Rahmenvertrag mit der Telekom ermöglicht, dass auf alle drei Mobilfunkanbieter zugegriffen werden kann und sich die spezielle SIM-Karte immer das stärkste Netz sucht.
Ein zusätzliches System für die Sprachkommunikation macht den Rettungswagen „smart“, wie die Technikexperten bei der Präsentation des AVA beim ASB in Eschborn erläutern. Je nach Konfiguration kostet dieses komplette System rund 8000 bis 10 000 Euro pro RTW.
Michael Cyriax, Landrat des Main-Taunus-Kreises, als auch sein Kollege im Hochtaunuskreis, Ulrich Krebs, betonen, dass sie - ebenso wie die Taunus Sparkasse - dieses Pilotprojekt für ein Mehr an Rettungskapazität gerne unterstützen. Viele Einsätze fänden kreisübergreifend statt, und da dürfe keine Zeit verlorengehen. Krebs: „Notärzte sind gesuchte Personen, und in den nächsten Jahren wird das Personal knapp, daher müssen wir deren Reichweite erhöhen.“
Andreas Peiker, CEO der peiker Holding in Bad Homburg: „Mit dieser Software ist es möglich, dass ein Notarzt während eines Rettungseinsatzes alles über den Patienten am Bildschirm mitkriegt. Über ständigen Sprachkontakt mit den Sanitätern kann er Anweisungen und Hilfestellungen geben - sogar für mehrere Fahrzeuge und Rettungsteams gleichzeitig.“ Auch der ärztliche Leiter des Rettungsdiensts im Main-Taunus-Kreis, Jörg Blau, ist von den zusätzlichen Möglichkeiten angetan: „Wir sehen die Stärke dieses Assistenzsystems darin, dass wir nicht mehr so oft einen Notarzt an die Einsatzstelle nachfordern müssen. Wir können künftig auch aus größerer Distanz unterstützend zur Seite stehen und in einen fachlichen Dialog treten, um sowohl das Personal als auch den Patienten zu beraten, wenn ärztliches Know-how erforderlich ist.“
Dafür ist der Notfallsanitäter mit Headset und (Handy-)Kamera sowie einem leistungsstarken portablen Router ausgerüstet, damit auch außerhalb des Dunstkreises des RTW die Kommunikationsverbindung perfekt funktioniert. Er wählt sich in das System ein, und dann reicht bereits ein Knopfdruck, um den Telenotarzt zu kontaktieren, und sofort wird ein Audio-Video-Livestream aufgebaut. „Dann sehen wir an unserem Bildschirm alles, was an Ort und Stelle gerade relevant ist, also Daten wie Blutdruck und Herzfrequenz oder Fotos, die der Sanitäter vom Patienten gemacht hat. Dort kann ich mir zum Beispiel das Gesicht näher ansehen oder den frakturierten Arm zeigen lassen.“
Gerade da die meisten Entscheidungen des Rettungsdienstes, also ob jemand ins Krankenhaus gebracht wird, noch in der Wohnung des Patienten getroffen werden, sei die mobile Lösung wichtig, um zeitnah beraten zu können. „Selbst die älteren Mitmenschen akzeptieren das sehr gut und reden ganz normal mit uns!“ Schließlich kann der Notarzt auch - über die Kamera im Rettungswagen - den Transport verfolgen, falls das medizinisch nötig ist.
Eine wesentliche Voraussetzung erklärt Lischke: „Wir sind zwar beratend und assistierend tätig, aber wir können in den Prozess vor Ort nur dann eingreifen, wenn uns der Rettungsdienst auffordert, weil er Unterstützung braucht. Wir können uns also nicht einfach so in das System einschalten und den Rettungsdienst überwachen!“
Er erhofft sich davon, dass die Notärzte künftig entlastet und effizienter dort eingesetzt werden können, wo sie wirklich mit „Hands-on“-Tätigkeiten gebraucht werden.