Alles geben bei Vermisstensuche

Polizei bearbeitet Anzeigen mit Hochdruck / 153 Fälle im vergangenen Jahr
Main-Taunus - Wenn Menschen plötzlich verschwinden, werden sie zumeist - von Angehörigen, Freunden oder Kollegen - als vermisst gemeldet. Doch diese Fälle lassen sich nicht alle über einen Kamm scheren, erklärt Stefan Leidke. Der 41-Jährige leitet das Sachgebiet 1 der Regionalen Kriminalinspektion im Main-Taunus-Kreis, ist zuständig für Gewalt- und Branddelikte sowie Vermisstensachen. „Als vermisst gilt jemand, der seinen gewohnten Lebenskreis verlässt und der Aufenthaltsort unbekannt ist - und wenn eine Gefahr für Leib und Leben angenommen werden kann, also eine Straftat, ein Unglücksfall, Hilflosigkeit oder Selbsttötungsabsicht vorliegt.
„Im vergangenen Jahr haben wir 153 Vermisstenfälle bearbeitet.“ Rund 120-mal handelte es sich dabei um sogenannte „Streuner“, also Jugendliche, die in einer Unterkunft leben und mal über Nacht wegbleiben. „Häufig werden auch Menschen, die ihren Suizid angekündigt haben, als vermisst gemeldet. Dann ist es für uns ein Wettlauf gegen die Zeit, aber glücklicherweise finden wir fast alle, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen.“
Verschwinden ist keine Straftat
Nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) werden 66 Prozent aller Vermisstenfälle innerhalb der ersten drei Tage geklärt, 80 Prozent im ersten Monat. Das bedeutet, dass die Personen freiwillig zurückkehren, aufgegriffen werden oder ihr Aufenthalt ermittelt werden kann. Nur drei Prozent sind länger als ein Jahr ungeklärt. „Dann allerdings gelten sie irgendwann als ,Cold Case‘ und es gibt ein Ermittlungsverfahren, da wir davon ausgehen, dass ein Delikt zugrunde liegt, auch wenn - noch - keine Leiche gefunden wurde“, erläutert der Kriminalhauptkommissar. Dazu gehört auch der Fall der damals elfjährigen Annika Seidel aus Kelkheim, die seit 1996 vermisst wird.
„Übrigens ist es ein Gerücht, dass man 24 Stunden warten soll, bevor man sich an die Polizei wendet! Sobald jemand ein ungutes Gefühl hat, sollte er sich melden, lieber früher als zu spät, und dann werden wir direkt aktiv, denn jede Stunde zählt“, betont Leidke. Normalerweise könne der Aufenthaltsort sehr schnell ermittelt werden, oft sogar schon am selben Tag.
Sehr selten finden Fälle kein gutes Ende; so konnte ein 82-Jähriger im April vergangenen Jahres in einem unzugänglichen Gebüsch nur noch tot aufgefunden werden. Eher kurios war der Fall eines dementen Seniors, der nach 24 Stunden in Österreich aufgegriffen wurde, da er sich wohl an einen dortigen Ferienaufenthalt erinnert hatte und mit der Bahn zu einer Berghütte gefahren war. Diese sogenannten „Hinwendungsorte“ versprechen bei einer Suche am meisten Erfolg, daher sei es wichtig, dass Angehörige solche Informationen geben können. Der Hinweis auf einen früheren Urlaubsort führte auch bei einem Mann, der alle Zelte abgebrochen hatte und auf dem Weg nach Portugal war, zu einem glücklichen Ende. Er selbst entdeckte im Internet die öffentliche Fahndung nach ihm, änderte seine Meinung und kam zurück.
Ein solches Beispiel macht allerdings auch deutlich, dass Erwachsene ein Aufenthaltsbestimmungsrecht haben und - gar nicht selten - ihr Lebensumfeld bewusst verlassen. So erinnert sich der Beamte an einen Mann, der von seinem Arbeitgeber als vermisst gemeldet wurde, aber klammheimlich in den USA ein neues Leben beginnen wollte. Dank sozialer Medien wurde er dort aufgespürt, aber dessen Verwandte müssen seinen Aufenthaltsort nicht erfahren. „Verschwinden“ ist eben Persönlichkeitsrecht, keine Straftat.
Freuen kann sich Leidke über den Fall eines kleinen Mädchens, das vom Vater entzogen worden war und um die Welt reiste, nach fünf Jahren aber in Paraguay aufgestöbert werden und wieder in Kontakt mit der Mutter gebracht werden konnte: „Diese Suche war auch technisch sehr aufwendig.“
Selbst, wenn keine Hinweise auf eine Gefahrenlage vorliegen, werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, eine Person zu finden. Gerade bei Kindern, die nicht zur vereinbarten Zeit irgendwo ankommen, und Senioren, die - aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands oder der Witterung - hilflos oder in ein Unglück verwickelt sein könnten, fährt Leidkes Team sofort alle Maßnahmen hoch. Die Kollegen seien hochmotiviert, sie gingen ,All-in‘.
„Wir versetzen uns in die Lage der Angehörigen, die jemanden vermissen, und da würden wir auch erwarten, dass jeder alles gibt, um denjenigen zu finden. Die Angehörigen legen ihre ganze Hoffnung in unsere Hände“, so der Kriminalhauptkommissar. „Da gehen wir in die Vollen und kennen kein Limit, und wenn die vermisste Person gefunden wurde, ist das ein supergutes Gefühl.“