NSU 2.0: Zeugen noch nicht vernommen

Im Fall „NSU 2.0“ hakten die Ermittlungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft – angeblich wegen Corona. Nicht nur an diesem Punkt lieferte der Innenausschuss erstaunliche Neuigkeiten.
Rechtsextreme Drohungen, illegale Polizeiabfragen, Informationspannen und fragwürdige Ermittlungen: In einer vierstündigen Sitzung haben Innenminister Peter Beuth (CDU) und der leitende Oberstaatsanwalt Albrecht Schreiber am Dienstag im Innenausschuss des Hessischen Landtags vieles erklären müssen.
„NSU 2.0“-Drohungen: Mittlerweile werden dem Absender, der sich auf die rechtsextreme Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) bezieht, 69 Schreiben an 28 Personen in acht Bundesländern zugeordnet. Hinzu kommen Institutionen, die angeschrieben wurden. Die Adressaten sind in höchst unterschiedlichem Maße betroffen. Etliche Empfängerinnen wurden mit dem Tode bedroht. Andere Adressaten wurden hingegen nur in „cc“ gesetzt, also vom „NSU 2.0“ über bestimmte Schreiben informiert, darunter zuletzt auch die Redaktion der Frankfurter Rundschau und andere Medien. Die Drohungen gingen in verschiedenen Formen ein: als E-Mails, Faxe, SMS sowie unter Nutzung von Internet-Kontaktformularen.
Illegale Polizeiabfragen: Bei drei Abfragen von hessischen Polizeicomputern besteht der Verdacht, dass persönliche Daten abgerufen wurden, um sie später für „NSU 2.0“-Drohmails zu nutzen. Es handelte sich um Daten der Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, der hessischen Linken-Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler und der Kabarettistin Idil Baydar. Die Daten der Anwältin waren im 1. Frankfurter Polizeirevier kurz vor dem 4. August 2018 abgerufen worden, an dem das erste Drohschreiben der Serie an sie ging. Nach Beuths Angaben wurden Baydars Daten am 4. März 2019 im 4. Revier in Wiesbaden abgegriffen, die von Wissler am 10. Februar 2020 im 3. Revier in Wiesbaden. Darüber hinaus seien „keine weiteren Anfragen bekannt geworden“, die im Zusammenhang mit Drohschreiben stehen könnten, führte Beuth aus. Bei den Ermittlungen stießen die Sicherheitsbehörden nach Beuths Angaben darauf, dass drei der Bediensteten in den drei Revieren „virtuelle Kennverhältnisse zur rechtsextremen Szene“ gehabt hätten, also irgendeine Art von Kontakt auf einer Internetplattform. Dagegen habe der Verfassungsschutz keinen Hinweis auf „persönliche realweltliche Kontakte“. Alle drei Protagonisten versähen inzwischen keinen Dienst mehr in Hessen, berichtete Beuth.
Roland Ullmann, der neue Landespolizeipräsident, nahm auch an der Sitzung des Innenausschusses des Landtags teil. Ermittlungen: Die Polizei hat ermittelt, welche Beamten jeweils an den Computern eingeloggt waren und wie viele Beamtinnen und Beamte auf den Revieren im Einsatz waren. Bei der Abfrage zu Wisslers Daten im 3. Revier waren es nach Beuths Angaben zum Beispiel zwölf Polizistinnen und Polizisten. Für ungläubiges Erstaunen bei der Opposition sorgten die Angaben der Staatsanwaltschaft, wonach die Bediensteten im Fall Baydar bisher nicht alle befragt worden seien und im Fall Wissler noch gar nicht damit begonnen wurde. Oberstaatsanwalt Schreiber sagte zur Begründung, die Frankfurter Behörde habe den Fall Baydar erst im November von den Berliner Kollegen übernommen. „Dann kam Corona ab Februar.“

Keine Handy-Durchsuchung: Mit Verwunderung wurde im Parlament auch die Tatsache aufgenommen, dass die Ermittler keine Handys oder anderen Datenträger sichergestellt hatten. Sie begründeten dies damit, dass die Beamtinnen und Beamten als Zeugen und nicht als Beschuldigte behandelt würden. Im Fall Basay-Yildiz hatte die Überprüfung von Handys auf dem Frankfurter Revier dazu geführt, dass eine Chatgruppe mit rechtsextremen Inhalten aufflog, was weitere einschlägige Ermittlungen nach sich zog. Der SPD-Innenpolitiker Günter Rudolph urteilte: „Das Virus kann keine Entschuldigung dafür sein, dass Zeugen spät oder noch gar nicht vernommen worden sind. Auch dass Beweismaterial nicht sichergestellt wurde, lässt sich mit Corona weder erklären noch entschuldigen.“ Der Linken-Abgeordnete Hermann Schaus fragte, „warum Polizistinnen und Polizisten, die als Urheber illegaler Datenabfragen im Wiesbadener Polizeirevieren infrage kämen, monatelang nicht befragt, ihre Datenträger und Diensträume nicht durchsucht und Disziplinarverfahren erst jetzt nach Bekanntwerden eingeleitet wurden“.
Der Informationsfluss innerhalb der Polizei sowie zwischen Polizei und Minister Beuth hat nicht funktioniert. Deshalb musste in der vergangenen Woche bereits Landespolizeipräsident Udo Münch gehen. Sein Nachfolger Roland Ullmann nahm an der Innenausschuss-Sitzung am Dienstag teil. Die Vorgänge seien „Gegenstand einer fach- und dienstaufsichtsrechtlichen Prüfung“, sagte Beuth. Dabei würden auch die „nachträglich angefertigten Protokolle“ aus dem Landeskriminalamt (LKA) berücksichtigt. Darin wird dargelegt, dass das LKA das im Innenministerium angesiedelte Landespolizeipräsidium seit März über die illegalen Abfragen in den Fällen Wissler und Baydar informiert habe. Von Pitt von Bebenburg
Inzwischen gab es zwei erste Festnahmen im Zusammenhang mit dem „NSU 2.0“.