1. Startseite
  2. Rhein-Main

130 Kranke am Tag

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Allgemeinmedizinerin Petra Hummel liebt ihren Beruf trotz der Arbeitsbelastung, die zunehmend an den Kräften zehrt. reimer
Allgemeinmedizinerin Petra Hummel liebt ihren Beruf trotz der Arbeitsbelastung, die zunehmend an den Kräften zehrt. reimer © mrm

Mehr Arbeit, mehr Bürokratie und weniger Geld / Hausärzte am Limit

HOCHTAUNUS - Petra Hummel ist erschöpft. „Seit dem Herbst bin ich regelhaft bei einer 60-Stunden-Woche angelangt. Man ist viel müde“, berichtet die Bad Homburger Allgemein- und Notfallmedizinerin. Ihre Hausarztpraxis in Ober-Eschbach, in der sie vier medizinische Fachangestellte beschäftigt, betreibt sie seit 25 Jahren. Allein in den vergangenen vier habe die Patientenzahl um 25 Prozent zugenommen, sagt Hummel. Besonders anstrengend und fast nicht planbar seien die Montage: Seit einigen Monaten suchen montags 100 bis 130 Patienten Hummels Praxis auf, ab und zu noch mehr, auch aufgrund der vielen akuten Infekte, die zuletzt das Coronavirus, Influenzaviren und Erkältungserreger verursachten. Manche benötigen nur ein Folgerezept oder eine Impfung - etwa die Hälfte werde ärztlich untersucht und therapiert.

Dazu kommen die Dokumentation, für die Hummel täglich drei Stunden am Schreibtisch sitzt - „Zeit, die am Patienten fehlt“ -, das Bewerten von Befunden, die Bearbeitung von Formularen und der Post. „Oft resultiert daraus ein Zwölf-Stunden-Tag“, sagt die 54 Jahre alte Ärztin. „Wir sind am Limit.“ Die Neuaufnahme von Patienten müsse sie derzeit ablehnen. Nicht wenige hausärztliche Kollegen böten längst auch keine Hausbesuche oder Heimbetreuung mehr an, weiß Hummel, die Vorsitzende des Bezirks Taunus im Hausärzteverband Hessen ist und der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen angehört. „Die medizinische Versorgung der Leute verteilt sich auf immer weniger Schultern. Viele unserer Patienten haben deshalb Angst.“

Kostendruck statt Patientenwohl

Während die Krankenhäuser in der Pandemie in den Fokus rückten, krankt parallel das ambulante System - nur dass diese Probleme längst noch nicht die nötige Aufmerksamkeit bekämen, wie Hummel sagt. Auch im Kreis und in Bad Homburg blicke die Politik eher auf die Hochtaunus-Kliniken als auf die Niedergelassenen, obwohl 90 Prozent der Behandlungen im ambulanten Sektor stattfänden. Klar sei: „Das Krankenhaus kann die Arbeit der Hausärzte nicht leisten. Dazu gehört auch: Ich komme rein, mir hört jemand zu, was oft schon sehr aufschlussreich ist.“ Doch die Zeiten, in denen sich alle ihre Finger nach einem Kassensitz leckten, seien auch in der Kurstadt vorbei, betont Hummel. „Viele Kollegen haben Probleme, hier einen Nachfolger zu finden, und lokale Unterstützung gibt es auch nicht. Auf dem Land hilft schon mal der Bürgermeister.“ Die Arbeitsbelastung, das unternehmerische Risiko - „das Defizit der Kliniken zahlt der Kreis, ich trage mein Risiko ganz allein“ - dazu die permanente Gefahr existenzbedrohender Kassenregresse: Da wolle der Nachwuchs lieber angestellt arbeiten, statt selbst eine Praxis zu übernehmen.

Der Ärztemangel könnte gerade im Süden Bad Homburgs noch dramatisch werden: Der Ober-Eschbacher Kinderarzt Dr. Ralf Moebus, in Hessen Vorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, und sie, berichtet Hummel, guckten „wie die Karnickel vor der Schlange“ aufs Baugebiet Südcampus am Ortsrand, wo über 500 Wohnungen hochgezogen werden. Auch im Nachbarstadtteil Ober-Erlenbach wurde im großen Stil gebaut. „Ein Haus- oder Kinderarzt war hier immer problemlos zu haben, jetzt ist das nicht mehr so“ - der Zuzug und eine älter werdende, komplexer erkrankte Bevölkerung tun ihr Übriges. Generell werde die finanzielle Situation der Praxen immer unsicherer: Zusätzlich zu den steigenden Energiekosten müsse man für Medizinprodukte vom Liegenpapier bis zum Laborröhrchen zwei- bis dreimal so viel bezahlen wie vor Corona. „Das ist weit mehr als die durchschnittliche Inflation. Nur wir können unsere Preise nicht einfach so anheben.“ Zum Überlaufen habe das Fass für die Praxen, die sich jetzt wehren, die Streichung der erst 2019 eingeführten Neupatientenregelung gebracht: Neupatienten bedeuten einen höheren Aufwand, weshalb die Kassen deren Aufnahme schlicht ohne Abzüge vergüteten. „Die Streichung dieser Regelung bedeutet für die hessischen Praxen Einbußen in Millionenhöhe - die Mehrarbeit freilich bleibt“, sagt der Königsteiner Hausarzt Stefan Grenz. „Dass sich besonders bei den Hausärzten ein gewisser Frust festbeißt, ist kein Wunder“, sagt Grenz.

Auch interessant

Kommentare