Geselligkeit als Medizin

Im Agaplesion-Altenheim in Sachsenhausen helfen tägliche Programme gegen die Schwermut.
Sie sitzen um den großen Tisch in der „Wohnstubb“ des Altenpflegeheims in der Schwanthaler Straße und schauen zu, wie zwei große Kürbisse ausgehöhlt werden und mit kräftigen Schnitten ihre Augen bekommen. „Wo bleibt die Nase“, fragt eine Bewohnerin ungeduldig. „Die kommt später“, wird ihr von einer der beiden Frauen beschieden, die als „Alltagsbegleiterinnen“ diesen Vormittag gestalten.
Für jeden Tag gibt es ein Programm, denn Beschäftigung ist eine gute Möglichkeit, von der eigenen Befindlichkeit abzulenken, weiß der Leiter des sozialen Dienstes im Haus, Ralph Gabelin. Das Altenpflegeheim in Sachsenhausen ist eines von zehn, die sich am Pilotprojekt „Davos“, beteiligen.
Gabelin und Pflegedienstleiterin Cornelia Sciborski hoffen, dass die Bewohner, die an einer Depression leiden, besser behandelt werden können, wenn das Projekt Fahrt aufnimmt. So soll es zum Beispiel möglich werden, einen Psychotherapeuten ins Haus zu holen. Bislang würden Hausbesuche nicht bezahlt, sagen Gabelin und Pflegedienstleiterin Cornelia Sciborski.
Bunter Alltag in der Wohnstubb
In der Wohnstubb plärrt das Radio. Elvis Presley und Co, viel Rock ’n’ Roll. Eine alte Dame, „hochdement“, wie Gabelin sagt, tanzt einen einsamen Boogie-Woogie. „Das habe ich immer gemacht: getanzt“, sagt sie. Sie trägt viel Schmuck und schminkt sich „mit allem was sie kriegen kann“. Das Schminktischchen in ihrem Zimmer strotzt vor Farbenpracht, umgeben von unzähligen Bildern aus jüngeren Jahren – und immer lacht und lächelt sie.
Die Tischgemeinschaft in der „Wohnstubb“ lässt das ungerührt. Das Kissen von der Fensterbank wird herübergereicht für eine 93-Jährige. Sie ist die Älteste in der Runde. Die Mehrheit ist „in den Achtzigern“, so Gabelin. Bei drei von ihnen wird eine Depression vermutet, sagt der Sozialdienstleiter. „Aber ich sage Ihnen nicht, wer das ist.“
Mit Humor und guter Laune gegen die Schwermut
In der vergangenen Woche drehte sich alles um den Kürbis. Das fing beim Essen an und hörte bei der Literatur nicht auf: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland wurde rigoros umgedichtet: Statt Birnen bekamen die Zuhörer Kürbisse aufgetischt.
Gute Laune und Humor sind ebenso wie Beschäftigung und Ablenkung probate Mittel gegen Depressionen. In dem Agaplesion-Altenheim wird auch nicht unterschieden, ob jemand dement ist oder depressiv, Schwierigkeiten bei der Orientierung hat oder ein hohes Maß an Selbstständigkeit besitzt. Alle Türen stehen offen. „Wir leben Inklusion hoch drei“, sagt Gabelin.
Umzug ins Heim ist eine Zäsur
Depressionen gelten bei alten Leuten als die psychische Erkrankung Nummer zwei – hinter der Demenz. Depressionen sind bei alten Leuten, die in einem Heim wohnen, weitaus häufiger verbreitet als bei ihren Altersgenossen, die in der eigenen Wohnung leben. „Der Umzug ins Heim ist ja der letzte“, sagt Cornelia Sciborski. Ein Einschnitt.
Viele Bewohnerinnen und Bewohner neigten dazu, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Vielleicht nur, weil die Prothese nicht richtig sitzt oder sie inkontinent sind und Angst haben, sich zu blamieren. Manch einer sei schon zu Hause sehr isoliert gewesen, etwa nach dem Verlust des Partners, und die sozialen Kontakte seien verkümmert.
Das Leben ist endlich
Im Heim gibt keine Ausreden mehr: Das Leben ist endlich, lautet die unerbittliche Wahrheit. Da hat der eine oder andere vielleicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Nicht bei allen falle die „Bilanz des Lebens“ positiv aus, sagen Sciborski und Gabelin.
Auch „der Rollenwechsel“ mache zu schaffen: Früher haben sich die Heimbewohner um die Kinder gekümmert, jetzt ist es umgekehrt. Wenn die Kinder wenig Zeit haben, weil sie arbeiten müssen oder wegziehen, fühlen sich die Eltern im Heim oft abgeschoben. Diese „stummen Vorwürfe“, versuchen Sciborski und Gabelin aufzugreifen und zwischen den Generationen zu vermitteln.
„Herr Ober bringen Sie mir noch ein Bier“
„Wir dürfen viel ausprobieren“, sagen sie. Die Alltagsbegleiterinnen wie Nazika Essakkaki und Bethi Aron, die mit den Bewohnerinnen und Bewohnern nicht nur das Programm gestalten, sondern auch spazieren gehen, vorlesen oder einkaufen, haben sich bewährt. Mit Backen, Yoga, Singen im Sitzen oder Sturzprävention gelinge es immer wieder eine halbwegs gesellige Atmosphäre zu schaffen – Balsam für die Seele. An Brauchtumsabenden kann es dann passieren, dass Gabelin mit der Aufforderung konfrontiert wird: „Herr Ober bringen Sie mir noch ein Bier.“ Klar, dass er dann auch noch den Kellner macht.
Man brauche „Empathie“ für den Job, sagt Sciborski, die seit 30 Jahren Krankenschwester ist – und das Gespür dafür, was den alten Leuten Freude macht: So hat die Wohnstubb mit ihren alten Möbeln, dem Röhrenfernseher, einer alten Schreibmaschine und Häkeldecken vielleicht einen leicht musealen Charakter. Aber so sah es früher zu Hause aus.
In der Küche stapeln sich Teller und Tassen bunt durcheinander – Restbestände der Porzellan-Services, die den Bewohnern gehören. Im Kühlschrank befindet sich immer „etwas Süßes mit Sahne“ – das hilft gegen Traurigkeit. Und so bewegt sich das Leben im Heim zwischen Erinnerung, Illusion und Wirklichkeit.