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Fragwürdige Medikamente und überflüssige Eingriffe

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Von: Pamela Dörhöfer

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In Deutschland werde viel zu häufig operiert, kritisiert Gerd Reuther.
In Deutschland werde viel zu häufig operiert, kritisiert Gerd Reuther. © rtr

Frontalangriff auf das Gesundheitssystem: Gerd Reuther berichtet von Arzneien ohne Wirksamkeits-Nachweis, dem Aktivismus vieler Mediziner und unnötigen Eingriffen. Interview mit einem streitbaren Radiologen.

Medikamente, die mehr schaden als helfen. Überflüssige Operationen. Kliniken, in denen man um sein Leben fürchten muss. Ärzte als „Erfüllungsgehilfen“ der Pharmaindustrie. Von Unternehmen finanzierte Forschung und Fortbildungen. Autoritätsgläubige Patienten. Der Radiologe Gerd Reuther äußert in seinem Buch „Der betrogene Patient“ harte, teils sogar vernichtende Kritik am Medizinbetrieb in Deutschland und lässt bei seinem Parforceritt über 400 Seiten kaum einen Bereich aus. Nicht alles, was er anprangert, ist neu und vieles gewiss streitbar. Aber in dieser Fülle und Wucht ist sein Werk außergewöhnlich, mutig und allemal eine interessante, aufschlussreiche Lektüre.

Herr Reuther, Sie zeichnen in Ihrem Buch ein negatives Bild des Medizinbetriebs in Deutschland. Aber die Lebenserwartung ist in den vergangenen Jahrzehnten doch deutlich gestiegen. Spricht das nicht für eine hohe Qualität?

Medizinische Innovationen wie die vermeintlich segensreichen Antibiotika, die es ab dem 20. Jahrhundert gab, müssten sich darin spiegeln, dass sich im Kurvenverlauf der Lebenserwartung etwas ändert. Doch das ist nicht der Fall. Die Entwicklung der Lebenserwartung bleibt linear. Dass sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach oben geht, dafür sind in erster Linie der bessere Ernährungszustand, die bessere Hygiene und bessere Arbeitsbedingungen der Menschen verantwortlich. In den nächsten Jahrzehnten werden diese Effekte nicht mehr greifen, die Lebenserwartung wird deshalb stagnieren.

Die Antibiotika sollen nichts damit zu tun haben, dass die Menschen länger leben? Ihre Entdeckung sorgte doch dafür, dass man Infektionskrankheiten behandeln kann, an denen früher viele gestorben sind.

Bakterielle Infektionen sind so alt wie die Menschheit und werden vom Körper beherrscht, wenn das Immunsystem intakt und man gut ernährt ist. Der Grund, warum sie bis Ende des 19. Jahrhunderts so oft tödlich verliefen, war der schlechte Allgemeinzustand vieler Menschen. Ein gesunder Mensch, der nicht mit anderen zusammengepfercht lebt, braucht in der Regel keine Antibiotika. Deshalb sind 90 Prozent der Verordnungen auch unnötig. Häufig werden Infektionen zudem durch Parasiten oder Viren verursacht. Und gegen diese Erreger wirken Antibiotika überhaupt nicht.

Eines Ihrer großen Themen ist es, dass viele Therapien ohne den wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit verordnet würden. Ist nicht sichergestellt, dass ein Medikament oder ein Verfahren vor der Zulassung ausreichend geprüft wurde?

Leider nicht. Vor der Zulassung werden die Medikamente meist an jüngeren Menschen getestet. Später sind es dann aber eher ältere Patienten, die diese Mittel einnehmen. Schon aus diesem Grund sind die Untersuchungen nicht repräsentativ. Vor allem aber geben die Hersteller auch nur jene Studien frei, die zum gewünschten Ergebnis kommen. Die Cochrane Collaboration, ein globales unabhängiges Netzwerk von Wissenschaftlern und Patientenvertretern, kämpft seit Jahren um eine evidenzbasierte Medizin und darum, dass auch jene Studien eingebracht werden müssen, bei denen sich ein Medikament nicht bewährt hat.

Auf was kann mich dann verlassen? Nach der Lektüre Ihres Buches hatte ich den Eindruck: auf fast gar nichts.

Ursprünglich hatte mein Buch den Titel „Vertraue nur dem Zweifel“. Alles zu hinterfragen, ist absolut notwendig. Überprüfungen der Cochrane Collaboration haben nur bei vier Prozent der untersuchten Maßnahmen eine solide Evidenz ergeben. Das heißt: Für 96 Prozent der Medikamente und Verfahren gibt es keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass sie wirksam sind.

Eine Studie, die in den letzten Jahren für Wirbel gesorgt hat, war die SPRINT-Studie zum Bluthochdruck. Sie kam zum Ergebnis, dass eine Senkung des oberen Blutdruckwertes auf höchstens 120 mmHg für das Herz besser sei als die bisher häufig empfohlenen 140 mmHg als Obergrenze. Viele Kardiologen pflichten dem bei. Sie hingegen sehen auch diese Studie mit Skepsis.

Bluthochdruck ist ein Mythos in der Medizin, der sehr viel mit dem verbreiteten Phänomen der Krankheitserfindung zu tun hat. Ich persönlich habe große Bauchschmerzen mit der Absenkung auf Werte, die unter denen liegen, die bisher als tolerabel galten. Für mich ist das ein Forschungsansatz, den ich nur habe, wenn ich jeden Menschen wegen Bluthochdruck behandeln möchte.

Wollen Sie damit sagen, dass man mit dem Ziel, die Werte zu senken, in die Studie gegangen ist?

Das ist für mich klar. Und: Vielleicht lässt sich durch einen niedrigeren Grenzwert zwar das Risiko für rein druckbedingte Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall senken. Doch dafür erhöht sich das Risiko für andere Erkrankungen wie Stürze durch Benommenheiten, Elektrolytstörungen und Nierenversagen, und damit ändert man nur die Todesart. Auch wird immer gerne die Information unterdrückt, dass Medikamente häufig nach zwei, drei Jahren nicht mehr wirksam sind, weil der Körper dagegen arbeitet. Das geben auch Internisten hinter vorgehaltener Hand zu. Dennoch nehmen Patienten solche Blutdrucksenker 20 bis 30 Jahre lang ein, ohne dass sie wirklich etwas bringen. Das ist ein ganz dunkles Kapitel der Evidenz beim Bluthochdruck.

Sie kritisieren in Ihrem Buch generell das Senken der Grenzwerte, nicht nur beim Blutdruck, auch bei Cholesterin oder Blutzucker.

Ja, denn das dient ausschließlich den Interessen der Pharmaunternehmen. Beim Cholesterin etwa ist belegt, dass es keinen Einfluss auf das Entstehen von Arteriosklerose hat. Aber die Medizin weigert sich unter dem Einfluss der Industrie, das anzuerkennen. Beim Zucker verhält es sich ähnlich. Wenn Menschen mit einem Typ 2-Diabetes auf scharf normale laborklinische Zuckerwerte eines Gesunden eingestellt werden, so produziert das eher Komplikationen. Außerdem wird Diabetes Typ 2 vielfach durch Lebensstil ausgelöst und kann mit einer Umstellung der Ernährung zurückgeführt werden. Die Pharmaindustrie hat da nichts verloren.

Wie sollen betroffene Patienten damit umgehen? Blutdruck- und Cholesterinsenker werden ja außerordentlich häufig verschrieben. Das kann man doch nicht einfach so weglassen, oder?

Ich rate zu allergrößter Skepsis. In den meisten Fällen sind diese Medikamente nicht angezeigt. Wenn Alternativmediziner davon berichten, dass es den Menschen oft besser geht, wenn sie zu ihnen kommen, so liegt das meist nicht an der Therapie dort, sondern daran, weil sie die Medikamente, die Schulmediziner verschrieben haben, absetzen. Was den Blutdruck angeht, so würde ich bei oberen Blutdruckwerten unter 150 mmHg nie an eine Behandlung denken.

Sie warnen davor, dass gerade bei Bluthochdruck häufig mehrere Mittel in Kombination verschrieben werden.

Patienten bekommen nicht selten drei und mehr Präparate gleichzeitig. In Studien wurden diese Wechselwirkungen nicht ausreichend untersucht. Grundsätzlich werden Ursachen für Todesfälle und Erkrankungen zu selten in Medikamenten gesucht. Dabei wird zum Beispiel ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Demenzen durch Medikamente ausgelöst, zum Beispiel durch Benzodiazepine (Beruhigungsmittel). Beim Absetzen klaren diese Menschen dann wieder auf, das habe ich in meiner beruflichen Praxis als Radiologe immer wieder erlebt.

Wie kommt es zu den von Ihnen beschriebenen Übertherapien? Wissen es Ärzte nicht besser?

Da spielen drei Faktoren eine Rolle: Ein wesentliches Motiv ist medizinischer Aktionismus. Kommt jemand mit Beschwerden, dann wird er auch behandelt. In den Leitlinien lassen sich ja immer Handlungsanweisungen finden, was bei bestimmten Beschwerden zu machen ist. Da ist es schwer für einen niedergelassenen Arzt, sich zu trauen, entgegen den Leitlinien zu agieren. Dass die Evidenz dafür nicht gegeben ist, steht auf einem anderen Blatt. Tatsächlich basieren nur 20 Prozent der vorhandenen Behandlungsleitlinien auf dem wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit. Alles andere sind Übereinkünfte. Zweitens hat sich die Medizin im Laufe der Jahrzehnte zu einer Handlangerin der Pharmaindustrie gemacht, auch dürfte Korruption dabei teilweise eine Rolle spielen. Der dritte Faktor ist, dass es mittlerweile zu viele Spezialisten gibt, die nur über ein mikroskopisches Blickfeld verfügen. Wenn man zum Beispiel zu einem Facharzt für Wirbelsäulenchirurgie geht, wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit operiert, weil dies die Kernkompetenz dieser Fachärzte ist.

Die Pharmaindustrie erscheint geradezu übermächtig in ihren Buch. Kann ich mich nirgendwo behandeln lassen, ohne dass sie ihre Finger im Spiel hat?

Nirgendwo würde ich nicht sagen. Die Ärztegruppierung Mezis kämpft dagegen, dass 80 bis 90 Prozent der Fortbildungsveranstaltungen von der Pharmaindustrie beeinflusst sind. Auch wenn sie nicht direkt von Unternehmen gesponsert werden, so sind doch viele Experten, die dort sprechen, nicht mehr unabhängig, weil sie Beraterverträge haben oder Honorare für Vorträge bekommen. Hinzu kommt: Der Staat hat sich in letzten Jahren bei der Forschung sehr zurückgenommen, und dann ist man sehr dankbar, wenn die Pharmaindustrie die Finanzierung von Forschung und Lehrstühlen übernimmt.

Aus dem Gebiet der Krebsforschung sind in den vergangenen Jahren vielversprechende Meldungen gekommen: Viele Hoffnungen werden jetzt in neue zielgerichteten Therapien wie etwa die Immuntherapie gesetzt. Sie scheinen diese positive Einschätzung nicht zu teilen.

Es hat immer einen Hype gegeben, wenn es darum ging, dass etwas Neues auf den Markt gekommen ist. In Bezug auf die Immuntherapie finde ich es sehr kritisch, in das körpereigene Abwehrsystem einzugreifen. Da wird eine Büchse der Pandora geöffnet. Es könnte echte Autoimmunerkrankungen geben, weil der Körper die Akzeptanz gegenüber körpereigenen Substanzen verlieren kann. Insgesamt sind diese ganzen Meldungen über die Erfolge der modernen Krebsmedizin mit großer Vorsicht zu genießen, denn oft geht es nur um Wochen, höchstens Monate bei schlechter Lebensqualität.

Aber es heißt doch, dass viele Krebspatienten heute länger überleben können.

Das lässt sich leicht nachvollziehen. Es gibt heute aufgrund der vielen Früherkennungsmaßnahmen viele asymptomatische Befunde, Zufallsbefunde in sehr frühen Stadien etwa, die sehr lange dauern, bis sie zum Tod führen – oder aber, wie bei einigen Prostatakarzinomen, das niemals tun. Die Ursache dafür ist nicht die Therapie.

Wie ist denn Ihre Einstellung zur Früherkennung?

Ich halte in den meisten Fällen nichts davon. Unsere Verfahren zur Diagnose von Brustkrebs etwa sind bislang sehr unspezifisch, so dass es zu reihenweise falsch positiven Befunden kommt. Durch Mammographie-Screening sterben statt vier von 1000 Frauen nur drei an Brustkrebs. Doch einem neu entdeckten Mammakarzinom stehen sechs bis sieben falsch positive Befunde gegenüber. Da stimmt das Verhältnis nicht. In Deutschland hat man es anders als beispielsweise in Kanada, den Niederlanden oder Schweden versäumt, den Nutzen des Screenings evidenzbasiert zu untersuchen. Auch der PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs liefert häufig falsch positive Befunde. Eine Ausnahme ist die Darmkrebsfrüherkennung, weil es sich um einen Tumor handelt, von dem wir wissen, dass er sich langsam aus frühen Stadien wie Polypen entwickelt. Eine Darmspiegelung alle fünf Jahre ist sinnvoll, da wir vermutlich durch unsere Ernährungsgewohnheiten ein erhöhtes Krebsrisiko haben.

Was halten Sie von Gentests, die künftig über alle möglichen Veranlagungen Auskunft geben könnten?

Ich bezweifle, dass in den Genen unsere Zukunft steht und dass man in sie hineinblicken kann wie in eine Glaskugel. Die genetische Substanz ist sehr komplex und bislang sind nur die Hauptstraßen, nicht aber die Nebenwege und Seitengassen, entschlüsselt. Außerdem ändert sich die Erbsubstanz, die wir bei der Geburt haben, im Laufe des Lebens durch äußere Einflüsse wie Ernährung oder andere Faktoren. Ursachen für Krankheiten liegen deshalb meist woanders. Menschen aus Afrika etwa haben ein niedrigeres Risiko für Dickdarmkrebs. Nach einer Generation in den Industrieländern ist dieses jedoch genauso hoch wie hier. Der Einfluss der Umwelt ist meiner Ansicht nach eine entscheidende Krankheitsursache, aber viel zu wenig erforscht. Besser wäre es, mehr Geld für eine effektive Prävention auszugeben, aber das macht in Deutschland nur 0,3 Prozent der Gesundheitsausgaben aus.

Sie schreiben auch, man sollte häufiger mal gar nichts machen und auf die Selbstheilungskräfte vertrauen.

Selbstheilung und Gewöhnung sind bei einer Vielzahl von Beschwerden wirksamer als Behandlung. Man muss nur ein bisschen Geduld haben. Aber in der heutigen Schnelllebigkeit und unter dem Einfluss von Werbung denken wir, dass sich immer schnell etwas ändern muss. Doch das ist nicht das Konzept der Biologie, vor allem nicht, wenn man eine nachhaltige Besserung haben möchte. Für viele Symptome gilt: lieber erst mal warten.

Viele Ärzte machen ihren Patienten eine solche Haltung aber schwer. Sie prangern ja auch die vielen Operationen in Deutschland an. Wie kann ich mich dagegen wehren und sichergehen, mir nicht zu schaden?

Auch hier ist immer Zweifel angebracht. Man muss sich sagen, das ist eine Empfehlung, die an mich herangetragen wird – von jemand, der eine gewisse Befangenheit hat, der mich behandeln will; so wie Bankenberater Geldanlagen verkaufen. Vor allem bei Operationen sollte ich mir immer eine zweite oder dritte Meinung holen. Es ist auch sinnvoll, sich im Internet Daten zu besorgen. Klassische Beispiele für überflüssige Operationen ohne Evidenz sind die Entfernung der Rachenmandeln und das Einschneiden des Trommelfells bei Mittelohrentzündungen im Kindesalter oder das Entfernen der Gebärmutter bei Myomen. Es wäre schon viel geholfen, wenn Ärzte ihre Patienten so behandeln würden, als wären sie selbst der Patient. Dann würden sehr viele Operationen wegfallen, denn bei Medizinern gibt es viel weniger Eingriffe als bei der Normalbevölkerung.

Sie selbst sind Radiologe, schreiben aber über die verschiedensten Bereiche der Medizin. Woher wissen Sie das alles?

Als Radiologe habe ich auch die gesamte Heilkunde studiert und in diesem Fachbereich ist die Spezialisierung auch nicht so groß wie heute in den meisten anderen Fächern. Außerdem benötigen die meisten Fachgruppen bildgebende Verfahren, deshalb kenne ich die Zustände recht gut. Ich habe viele Gespräche mit Kollegen geführt und in zweieinhalb Jahren rund 20 000 Seiten gelesen. Neben meiner beruflichen Tätigkeit hätte ich das Buch allerdings nicht schreiben können.

Sie arbeiten nicht mehr als Radiologe?

Nein. Ich habe die Tätigkeit auch aus Frustration über das, was im Buch beschrieben ist, aufgegeben. Ich bin aus dem Medizinbetrieb ausgestiegen, weil meine Zweifel zunehmend gewachsen sind und ich kein Erfüllungsgehilfe mehr für schlechte Medizin sein wollte.

Was sagen Kollegen eigentlich zu Ihrem Buch? Sie gehen mit Ihnen ja hart ins Gericht.

Ich bin nicht der Einzige und nicht der Erste, der kritisiert. Ich wundere mich manchmal, dass sehr harte, drastische Aussagen fallen können, die kaum Resonanz haben und keine Kontroverse auslösen. Das Prinzip scheint zu lauten: The Games must go on.

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