Doppelte Belastung

Der Zusammenhang zwischen Diabetes und Depression wird unterschätzt.
Diabetes gilt in der Medizin verbreitet als rein körperliche Erkrankung und wird entsprechend behandelt. Zum Einsatz kommen Medikamente, Insulin, Medizintechnik. Dass eine Diabeteserkrankung sehr häufig mit gravierenden seelischen Problemen einhergeht, wird oft nicht oder zu spät erkannt. Nach Angaben der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) leiden rund 800.000 der 6,5 Millionen Diabetiker in Deutschland unter einer behandlungsbedürftigen Depression. Mehr als zwei Millionen Diabetespatienten weisen zumindest depressive Symptome auf. Dabei begünstigen Nebenwirkungen und Folgekomplikationen der Zuckererkrankung das Entstehen einer Depression – wie auch umgekehrt.
„Patienten mit Diabetes müssen jeden Tag Verantwortung für ihre Therapie übernehmen, ihre Blutzuckerwerte genau im Blick haben, Medikamente dosieren und einnehmen, Rückschläge verarbeiten“, sagt Bernd Kulzer, Sprecher des DDG-Arbeitskreises Diabetes und Psychologie. Hinzu kämen häufig Folgeerkrankungen an Gefäßen, Herz und Kreislauf. Dadurch steige das Risiko, an einer Depression zu erkranken, deutlich: „Menschen mit Diabetes leiden etwa doppelt so häufig unter Depressionen wie der Bevölkerungsdurchschnitt.“ Dabei können Teilnahmslosigkeit und Zukunftspessimismus als Folge der Depression die Diabeteserkrankung noch fördern, etwa wenn Patienten den Sinn der Therapie nicht mehr erkennen und die ärztlichen Vorgaben ignorieren.
Umgekehrt können Depressionen auch zu Diabetes führen. Antriebsarmut, körperliche Passivität, unkontrolliertes Essverhalten und die erhöhte Entzündlichkeit der Gefäße, die oftmals mit Depressionen einhergehen, könnten eine Diabeteserkrankung vom Typ II hervorrufen, unter der mehr als 90 Prozent aller Zuckerpatienten leiden. „Es sind zwei Teufelskreise, die da ineinandergreifen und sich verstärken“, sagt Psychotherapeutin Andrea Benecke von der Uni Mainz.
Und dabei werden sie oft nicht einmal erkannt. Nach Angaben der Initiative „Diabetes stoppen“ werden Diabeteserkrankungen in Deutschland im Schnitt um acht bis zehn Jahre zu spät diagnostiziert. Nach einer Untersuchung an der Uniklinik Tübingen litten etwa fünf Prozent aller eingewiesenen Patienten an einer Diabetes, von der sie bis dahin keine Ahnung hatten. Kulzer geht davon aus, dass nur etwa 30 bis 40 Prozent der depressiven Erkrankungen bei Diabetikern erkannt und behandelt werden.
Sterblichkeitsrisiko für Diabetiker steigt
Entsprechend gravierend sind die Folgen. Das Schlaganfallrisiko für Diabetiker ist ohnehin dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung, 16 Prozent aller Todesfälle werden von Diabetes verursacht. Auch die Suizidrate liegt um 50 Prozent höher als im Durchschnitt. Für Zuckerpatienten mit Depressionen ergeben sich noch dramatischere Zahlen. Das Sterblichkeitsrisiko ist laut Kulzer um das Doppelte höher als bei Diabetikern ohne Depression. Einer schottischen Studie zufolge verringert die Kombination aus Diabetes und Depression die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern um 12,2 Jahre, von Frauen um 11,4 Jahre. Auch die Kosten sind enorm. Allein die Kranken-, Pflege- und Rentenkassen werden jährlich mit rund 35 Milliarden Euro belastet, die unmittelbar durch Diabetes und Folgeerkrankungen verursacht werden. Die gesamtgesellschaftlichen Verluste liegen noch höher. Nach einer Analyse der Uni Köln beliefen sich die reinen Krankheitskosten bereits 2009 auf 48 Milliarden Euro – gegenüber dem Jahr 2000 ein Plus von 24 Prozent. Schreibt man diesen Trend ins Jahr 2017 fort, ergibt sich ein Betrag von rund 60 Milliarden Euro. Wobei laut Kulzer die Behandlung depressiver Diabetespatienten um 50 bis 90 Prozent teurer ist als die nicht depressiver Diabetiker.
Geringer wird das Problem in absehbarer Zeit nicht. Die Zahl stark übergewichtiger Menschen nimmt seit langem zu, dabei ist Übergewicht der Hauptauslöser für Diabetes mellitus vom Typ II. Auch psychische Erkrankungen sind seit 20 Jahren auf dem Vormarsch. Die Alterung der Gesellschaft tut ein Übriges: Rund ein Drittel der über 70-Jährigen leidet laut Kulzer an Diabetes. Von den knapp eine Million Pflegeheimbewohnern in Deutschland sind es etwa die Hälfte, schätzt Baptist Gallwitz, Vizedirektor an der Uniklinik Tübingen. Entsprechend müsse nicht nur die Zahl der Pflegekräfte steigen, sondern auch ihre Ausbildung um die Themenbereiche Diabetes, Depression und deren Diagnose erweitert werden.
Ziemlich am Anfang steht nach Ansicht der DDG auch noch immer die Prävention: Die bisherigen Informationskampagnen und Broschüren gegen ungesunde Lebensgewohnheiten erreichten die Betroffenen nicht, so Kulzer: „Die Wirkung ist gleich null.“