Und plötzlich geht nichts mehr: Portrait einer Angststörung

Christa Rosenberger zittert und schwankt und weiß nicht, weshalb. Eine diffuse Angst treibt sie um. Trotzdem genießt sie das Leben. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
Es gibt keine klaren Gesetze in der Disposition des modernen Menschen im komplexen Wechselspiel von Geist, Psyche und Körper.“ (Siri Hustvedt in „Die zitternde Frau“)
Später werde ich sagen, dass es Anzeichen gab: eine schleichende Unsicherheit, ein diffuses Gefühl der Beklemmung, Vermeidungsstrategien, Ausreden. In der Frankfurter Innenstadt, an der Konstablerwache, machte ich stets einen Umweg, um nicht die Straße überqueren zu müssen, an der aus beiden Richtungen die Straßenbahnen heranrauschten. Eine der Rolltreppen war mir zu schnell, ich nahm lieber die Stufen. Die U-Bahn war mir seit geraumer Zeit suspekt, weil sich deren Türen schon nach drei Sekunden schließen, und beim Ein- und Aussteigen aus der S-Bahn kam ich bereits mehrmals ins Straucheln.
Aber das alles war nichts gegen die totale Blockade an einem sonnigen Junitag – mitten auf einem Zebrastreifen. Meine Knie fingen an zu zittern, plötzliches Erstarren. Ich konnte mich nicht mehr von der Stelle bewegen, war wie festgewachsen. Autos stauten sich, einer der Fahrer fing an zu hupen. Die nackte Panik. Ein Passant führte mich an der Hand auf die andere Seite, und ich schaffte es gerade noch, ein Taxi zu rufen, das mich in Sicherheit brachte. In mein Zuhause im Vordertaunus. Nach dieser Begebenheit ging gar nichts mehr. Ich hatte Watte- und Wolkengefühle in den Beinen, sobald ich nur von einem Stuhl aufstand.
Medizin-Rallye: Mit Symptomen einer Angststörung in Untersuchung
Die Hausärztin
Nur am Arm meines Mannes konnte ich überhaupt das Sprechzimmer betreten. Die sympathische Frau Doktor sah mich freundlich an. „Was machen wir nur mit Ihnen? ... Ich werde jetzt erst einmal Ihren Blutdruck messen, ein EKG machen und Ihre Blutwerte ins Labor schicken.“ – „Alles im grünen Bereich“ lächelte die Sprechstundenhilfe nach meinem erneuten Besuch, ein paar Tage später. Mit einem Rezept für Psychopharmaka verließ ich die Praxis.
Die HNO-Spezialistin
Die junge dynamische Dame schaute mir in beide Ohren. „Alles okay“, sagte sie, „ich kann wirklich nichts für Sie tun. Ihr Gangproblem liegt mit Sicherheit nicht am Gleichgewichtssinn in Ihrem Innenohr. Kaufen Sie sich schnellstens einen Rollator.“
Der Internist
Er sprach zum ersten Mal die Worte „Angst“ und „Phobie“ aus. „Das ist ein Phänomen, das öfter vorkommt“, erklärte er und sagte: „Oh, Sie sind Vegetarierin, dann wäre zu klären, ob Ihr Körper ausreichend mit Mineralstoffen und Vitaminen versorgt ist.“ Zum Abschied tätschelte er mir den Rücken. „Das wird schon wieder.“
Schwierige Suche nach Hilfe bei einer Angststörung: Krankheit mit vielen Gesichtern
Der Orthopäde
Herr W. (ohne Doktortitel) zeigte mir am Bildschirm eindrucksvolle Aufnahmen von meinem lädierten Knochengerüst, erläuterte mir meine fortgeschrittene Arthrose, wies auf meine instabilen Kniegelenke und bemerkte, dass ich zwei neue gebrauchen könne. Dann zog er eine Cortisonspritze auf. Meine Gangunsicherheit fiel ihm nicht auf, weil ich mich im Raum von einem Stuhl zum anderen hangeln konnte, während er am Computer hantierte.
Das Institut für Physiologie
Ein paar Wochen lang mühte sich eine Physiotherapeutin vergeblich, mich mit Balanceübungen, Krankengymnastik und Koordinationstraining wieder ins rechte Lot zu rücken. Schwankend kam ich jede Dienstagstunde an, und schwankend ging ich aus jeder Dienstagsstunde wieder heraus.
Der Neurologe
Drei Frauen und vier Männer saßen im Wartezimmer nebeneinander. Müde, graue, erschöpfte Gesichter. Eine der Frauen packte ein Strickzeug aus – Indiz für ein langes Warten. In einer Ecke stand ein neongrün beleuchtetes Aquarium. Bunte Fische schwammen im Kreis um eine Wasserpflanze herum. Gefängnisfische. Ich musste an den Urlaub vor Jahren denken, am Roten Meer, an die Vielfalt und Freiheit der Meeresbewohner in den Fluten. Als mich nach zwei Stunden Wartezeit der Neurologe zur Tür hereinwanken sah, meinte er nur lakonisch: „Für Sie komme ICH nicht infrage, ich schicke Sie am besten eine Woche in die Neurologie.“
Wenn die Angststörung plötzlich das Leben prägt: Fragen und Antworten
Die Neurologische Klinik
Sie lag im alten Teil des Krankenhauses. Ich bekam ein Zweibettzimmer zugewiesen, obwohl ich eine Zusatzversicherung für ein Ein-Bett-Zimmer habe. - Wenigstens kümmerte sich sofort der Chefarzt persönlich um mich.
„Was sind Sie von Beruf?“ – „Journalistin.“ – „Leben Sie in einer glücklichen Beziehung?“– „Ja.“ – „Haben Sie Kinder?“ – „Ja, eine erwachsene Tochter.“ – „Traten bei Ihnen in der letzten Zeit familiäre Konflikte auf?“ Ich hörte mich „nein“ sagen und überlegte: Es gibt eine sperrige, streitlustige, überschlaue Tochter, die mich mit ihren Argumenten allabendlich an die Wand fährt, und es gibt einen mitunter schlecht gelaunten Rentner-Ehemann. Sind das Konflikte, die eine Angststörung rechtfertigen?
„Wovor haben Sie denn eigentlich Angst?“: Mit Angststörung in der neurologischen Klinik
Der Chef bohrte weiter. „Haben Sie Alkoholprobleme?“ Ich zweifelte einen Augenblick. Ist das regelmäßige, seit Jahren praktizierte Ritual des abendlichen Glases Rotwein womöglich doch schon ein Alkoholproblem? Warum können wir auch nicht einfach auf Tee umsteigen? Auf ganz ordinären Kräutertee zum Beispiel oder auf die anspruchsvollen ayurvedischen aus dem Reformhaus mit den Namen „Eiserne Göttin der Barmherzigkeit“ oder „Süßer Tau des Himmels?“
„Wovor haben Sie denn eigentlich Angst?, lautete die nächste Frage des Arztes. „Wenn ich das nur wüsste“, antwortete ich. „Wir werden Sie bei uns in den kommenden Tagen gründlich untersuchen und dann sehen wir weiter“, sagte er abschließend und drehte sich seiner jungen Begleiterin um, die mit ihrem Pferdeschwanz wie eine Lernschwester aussah: „Frau Kollegin, was meinen Sie, können wir bei der Patientin von einem phobischen Schwankschwindel ausgehen?“
Wege aus der Angststörung: Wenn der Gang vor die Tür schwerfällt
Kürzlich las ich in der „Zeit“ von einer Frau, die seit acht Jahren nicht mehr aus ihrem Haus ging. Sie ließ sich die Lebensmittel per Internetbestellung kommen, beschäftigte von ihrem Hoheitsgebiet aus Gärtner und Haushaltsgehilfen und berichtete fast fröhlich, dass so etwas funktioniert, dass sie nicht mehr hinaus in die Welt muss, weil die Welt zu ihr kommt.
Etwa 25.000 Kilometer geht ein Mensch im Laufe seines Lebens zu Fuß, wobei es mannigfaltige Formen der Fortbewegung gibt: Schlendern und Spazierengehen zum Beispiel, Joggen, Wandern, Pilgern und Marschieren. In der Philosophie wird das Gehen im aufrechten Gang weniger als Fortbewegungsart gesehen, sondern vielmehr als Kunst, Lebensform und Haltung. Rousseau stellt in seinen „Erkenntnissen“ Überlegungen darüber an, wie das Gehen seine Gedanken belebt, wie es seine Seele befreit und ihm eine größere Kühnheit des Denkens verleiht, und der Dichter Johann Gottfried Seume schreibt in seinem „Spaziergang nach Syrakus“: „Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und das Selbstständigste in dem Mann und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.“
Was würde er wohl zu der derzeitigen Lebenssituation einer Frau sagen, überlege ich, deren Wille zwar stark, aber das Fleisch schwach ist.
Neuropsychiatrie gegen Angststörung: Behandlung in der neurologischen Klinik
Ich habe mir das Buch der US-amerikanischen Schriftstellerin Siri Hustvedt gekauft „Die zitternde Frau“. Die Ehefrau von Paul Auster beschreibt darin, wie sie während eines Vortrages plötzlich vom Hals an abwärts zu zittern und zu zucken begann. Das unerklärliche Schütteln, von dem sie befallen wurde, ließ sich nicht abstellen. Diesen Zustand, der von da an regelmäßig auftrat, versuchte sie mit Hilfe der Neuropsychiatrie zu ergründen. Im Gegensatz zu mir nahm sie Psychopharmaka, unter anderem die umstrittene antipsychotische Droge Megaphen, was ihre Ärzte veranlasste, sie als „hysterisch“ einzustufen – vielleicht, weil sie denen von ihren mysteriösen visuellen Halluzinationen berichtet hatte.
Jahre später wurden bei Bundeskanzlerin Angela Merkel die gleichen Symptome beobachtet; wenn sie stand, zitterten ihr die Knie, und so kam es, dass sie fortan bei Empfängen und Vorträgen immer einen Stuhl vorfand.
Unterdessen liefen für mich in der neurologischen Abteilung der Klinik die Untersuchungen an: EMG, ENG, EEG, Nervenströme des Hirns wurden vermessen, Sensibilitätsprüfungen angestellt, Druckempfindlichkeiten geprüft, eine MRT des Schädels veranlasst und den vermutlichen Reizleitungsstörungen mittels kleiner Nadeln und Stromstöße nachgegangen. Auch wenn das Essen auf der Station grottenschlecht war und die sanitären Anlagen mehr als gewöhnungsbedürftig, die medizinische Betreuung war vorbildlich und perfekt. Das medizinische Personal arbeitete professionell, umsichtig, kompetent, und alle waren überaus liebenswürdig.
Angst – Furcht – Phobie: Was steckt hinter der Angststörung?
In der Wissenschaft der Sozialpsychologie sind die drei Begriffe exakt definiert. Furcht ist eine starke emotionale Reaktion auf eine wahrgenommene, tatsächliche und akute Gefahr. Unter Angst wird ein Zustand verstanden, der mit einem negativen Gefühl von Anspannung, Unruhe und Erregung einhergeht und sich auf eine Bedrohung in der Zukunft richtet. Phobien wiederum sind psychisch bedingte Angststörungen vor einem bestimmten Objekt oder einer bestimmten Situation, meist schon aus der Kindheit stammend. Es können auch skurrile Phobien sein. Die Angst vor Menschen und Mäusen etwa, vor Frauen und Fröschen und vor Erdnussbutter, die am Gaumen kleben bleiben und zum Erstickungstod führen könnte.
„Alle Menschen haben Angst“, sagte eine der Ärztinnen, „wer keine Angst hat, ist ein dummer Mensch. Aber es gibt Unterschiede“, fuhr sie fort, „die Angst vorm Fliegen, die Ängste beim Zahnarzt, vor Glatteis, vor einer Prüfung und einem Arbeitsplatzverlust sind völlig normal. Sobald sie aber den Alltag beherrschen und die Handlungsfähigkeit einschränken, werden sie zu krankhaften und krankmachenden Störungen.“
Statistik: Geflüchtete sind häufiger von Angststörungen betroffen
Jeder siebte Deutsche war wegen einer Angststörung schon einmal in Behandlung. Bei geflüchteten Menschen geht man sogar davon aus, dass bis zu 80 Prozent von ihnen psychisch krank sind. Vertreibung, Verfolgung, Vergewaltigung und Folter sowie die Strapazen der Flucht oder die risikoreiche Überfahrt in einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer sind traumatisierende Erlebnisse, die tiefe Spuren hinterlassen haben. Um ihre Erfahrungen verarbeiten zu können, benötigen die Menschen Zeit und psychologische Hilfe. Zum Glück existieren vielerorts zumindest Netzwerke mit psychotherapeutischen Ansätzen, intensiver Betreuung und Beratung und Krisenintervention.
Später, im Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlafen dachte ich an meine Ängste. Als Kind hatte ich Angst vor den Spinnen im Keller, mit den behaarten Beinen, die als große schwarze Punkte auf weiß verputzten Wänden regungslos verharrten, um dann plötzlich rasend schnell in eine Ecke zu huschen, ehe jemand mit einem Glas und einem Stück Papier erschien, um das Tier zu fangen und in die Freiheit zu entlassen. Und ich konnte mich noch gut an die Kindergartenjahre bei den katholischen Schwestern erinnern, die mir die Gewitterangst eingepflanzt haben. Wenn dunkle Wolken aufzogen, mussten alle Kinder aufhören zu spielen und mit den Schwestern bei jedem Blitz- und Donnerschlag zum lieben Gott beten. „Der liebe Gott schimpft“, sagten sie.
Leben mit Angststörung: Überweisung in die Psychotherapie
Mein tägliches Geh-Trainingsprogramm in der Neurologie nahm meine Bettnachbarin, Frau T., in die Hand. Unter ihrer Aufsicht lief ich in den endlosen Krankenhausfluren an den Haltestangen immer an der Wand entlang. Meine Beine gehorchten mir dabei recht brav. Kein Wunder, befand ich mich doch in einer Schutzzone, und ein Auto war weit und breit nicht zu sehen.
Frau T. liebte die Volksmusik und sah sich solche Sendungen im Fernsehen an. Wie schön wäre jetzt ein Einzelzimmer, dachte ich, als an einem Abend auf 3Sat ein melancholisches Familiendrama lief und beim ZDF ein Krimi aus Schweden. Aber ich konnte mich nicht durchsetzen, was mich noch lange ärgern sollte. Die resolute Frau T. bestand auf Herrn Silbereisen und seinen Musikern. Sie trällerte zunächst jede Melodie mit, aber bald hörte ich sie erst leise und dann laut vor sich hin schnarchen. Der Mond schien auf mein Bett. Ich war hellwach, „Atemlos durch die Nacht“, sang Helene Fischer auf dem erleuchteten Bildschirm.
Dann war die Zeit in der Neurologie vorbei. Mit der Diagnose „wache Rechtshänderin, voll orientiert, Hirnnerven intakt, klinisch-neurologisch ohne Befund, organisch gesund“ wurde ich entlassen. Der Professor empfahl gegen die Gang-Angststörungen eine Psychotherapie.
Spurensuche und Konfrontation: Die Angststörung überwinden
Zwischen Frau H., einer charmanten, diplomierten Psychotherapeutin, und mir stimmte die Chemie. Sie empfing mich warmherzig und mitfühlend und sprach sofort mein Problem an. Sie machte mich auf den gefährlichen Mechanismus einer Angst vor der Angst aufmerksam, arbeitete mit Kurven und an Konfliktlösungen, und bei einer Konfrontationsübung auf der Straße musste ich auf einer Skala von eins bis zehn meinen Stresslevel anzeigen. Leider blieb der bei einer neun stehen.
„Sie müssen sich Ihrer Angst stellen“, mahnte Frau H., „denn die beginnt gerade, sich in ihrem Körper gemütlich einzurichten.“ Aber wie stellt man sich seiner Angst? „Angsthase“ haben früher die Kinder geschrien, wenn sich einer aus ihren Reihen nicht traute, vom Dreimeterbrett in ein Schwimmbecken zu springen.
Mit der Zeit und nach zahlreichen Sitzungen und Gesprächen kamen aus den versteckten Falten meiner Seele immer mehr Gründe für (m)eine Angst ans Licht. Aber nicht die ganz großen existenziellen Themen in meinem Leben spielten eine Rolle, keine Todesangst, keine Verlustangst, nicht die Angst vor Krebs oder Herzinfarkt, nicht schlechte Träume und Traumata, nein ausgerechnet banale, alltägliche Situationen waren imstande, mir früher und noch jetzt schweißnasse Hände zu bescheren.
Drinnen und draußen: Die Angststörung als Begleitung durch den Alltag
Ich erinnerte mich an Schrecksekunden im Nebel auf französischen Landstraßen, an Busse vor und hinter unserem Wagen auf der berüchtigten Amalfitana, an steile Passstraßen, an Überholvorgänge auf der Autobahn, an die Panne im Elbtunnel, an die Turbulenzen über dem Atlantik beim Flug nach New York und an Neapel im morgendlichen Verkehr mit Staus, einem Flieger, der nicht wartete, und an die falsche Ausfahrt, die wir genommen hatten.
In meinen vier Wänden, in vertrautem Terrain, bin ich längst wieder Herrin über meine Gliedmaßen. Aber draußen, auf den Straßen, habe ich es bislang nicht geschafft, mich frei und unbeschwert zu bewegen. Selbst ein Zebrastreifen stellt für mich ein unüberwindbares Hindernis dar. Ich brauche eine helfende Hand, den Rockzipfel meines Begleiters oder wenigstens seinen kleinen Finger. Die Zecke Angst hat sich noch immer in meinem Körper eingenistet, weit und breit ist kein Happy End in Sicht.
Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, zähle ich mir manchmal alle positiven Begriffe auf, die mit meiner Behinderung zu tun haben: „wieder auf die Beine kommen“, „gut zu Fuß sein“ „standfest bleiben“, „auf eigenen Beinen stehen“, „die Beine in die Hand nehmen“ und „der Weg ist das Ziel“. Noch sind Ziel und Weg nicht erreicht, mein Weg, über den Frank Sinatra seinen berühmten Song gemacht hat. „I’ve traveled each and every high way, And more, much more than this, I did it my way.“ Ein Rollator wurde gekauft, und es bleibt mir als schwacher Trost, dass auch die „Zitternde Frau“ alias Siri Hustvedt nach wie vor zittert.
Nachtrag: Traum und Trauma - Ein Leben mit Angststörungen
Leider beherrscht das Thema Angststörung und Gehunsicherheit noch immer meinen Alltag. Vor etwa vier Jahren bekam ich aus heiterem Himmel eine Herpesvirusinfektion im rechten Innenohr, jenem Organ, das für das Gleichgewicht eines Menschen zuständig ist. In meinem Fall wurde es zerstört, seither befinde ich mich nicht mehr in der nötigen Balance und gerate ins Schwanken, Wanken, Straucheln und Taumeln.
Der HNO-Chefarzt der Klinik mutmaßt, dass meine Ängste von damals die ersten Vorboten gewesen sind und dass das Unterbewusstsein, mein inneres Navigationssystem, schon da die Entscheidung für die jetzige Krankheit getroffen hat. Nur in manchen Nächten, im Traum, fühlt sich die schwankende Frau frei und unbeschwert. Setzt einen Fuß vor den anderen, schlendert durch Parkanlagen, flaniert durch fremde Städte, im Traum lebt ihr Mann noch, mit ihm wandert sie zwischen Berg und Tal, und gemeinsam laufen sie Hand in Hand in der Morgensonne am Meeresstrand entlang.
Freuden im Alltag: Gute Gründe das Leben zu genießen - trotz Angststörung
Doch Träume sind Schäume, sagt der Volksmund. Dabei können die Bilder der Erinnerungen und die paradiesischen Welten, die im Schlaf auftauchen, persönliche Botschaften sein, wer sie zu deuten vermag, gewinnt wichtige Erkenntnisse und mitunter Glücksgefühle für den Alltag – auch für die „schwankende Frau“, die sich trotz ihrer Einschränkung über die schönen Dinge des Lebens freut.
Über die Netflixserie „Shitsel“ zum Beispiel, die sie in die unbekannte fromme jüdische Gemeinschaft der Ultraorthodoxen einführt. Über den Brief von Freundin Christel, die wieder einmal nur von der Kultur in Berlin schwärmt und keine E-Mails schreibt. Sie freut sich über die Gänseblümchenwiese im Garten und über die beiden ersten Früchte am Olivenbäumchen, genießt Vanilleeis mit Himbeersoße und amüsiert sich über den witzig gereimten Limerick, den die Tochter ihr täglich auf den Frühstückstisch legt. Ist einfach froh gestimmt über vieles, vieles andere mehr. Trotzdem! (Christa Rosenberger)