„Inhumane Zustände“: Geflüchtete landen in der Sackgasse

Immer mehr Menschen suchen in der Republik Zypern Zuflucht. Über den Norden der geteilten Insel eingereist, stecken viele dann fest – zum Beispiel im Lager Pournara.
Nikosia - Am Zaun des riesigen Flüchtlingslagers nahe der zyprischen Hauptstadt Nikosia sitzen fünf Syrer:innen im Schlamm vor einer selbst gebauten Baracke aus Holz und Plastikplanen. Drei Männer und zwei Frauen. Gegen die Kälte haben sie Decken um ihre Schultern geschlungen. Sie seien vor wenigen Tagen erst aus der syrischen Rebellenprovinz Idlib in die Türkei geflohen und dann mit einem kleinen Boot in den türkisch besetzten Norden der Insel Zypern übergesetzt, erzählt der 19-jährige Mohammed Bahur.
„Es war sehr gefährlich auf dem Meer, ich hatte Todesangst.“ Schließlich habe sie ein Schleuser über die Demarkationslinie in den griechischen Inselsüden gefahren. „Nun sind wir hier und wollen Asyl beantragen.“ Der junge Syrer berichtet, seine Familie habe vier Jahre in einem elenden Lager nahe der türkischen Grenze „vegetiert“. „Hier sitzen wir ebenfalls im Dreck, aber wir müssen keine Angst mehr haben.“
Zu Hause wollten mich aufgehetzte Leute umbringen. Ich bin dankbar dafür, dass ich hier nicht mehr um mein Leben fürchten muss.
„Zu Hause wollen mich aufgehetzte Leute umbringen“
Schweigend hört sich ein junger Mann mit dunkler Hautfarbe die Geschichten der Syrerinnen und Syrer an. Dann spricht auch er vom Ende der Angst. „Zu Hause wollten mich aufgehetzte Leute umbringen. Ich bin dankbar dafür, dass ich hier nicht mehr um mein Leben fürchten muss.“ Kenneth Esinwoke stammt aus Nigeria. Er ist homosexuell, was in seiner Heimat als Verbrechen verfolgt wird. Der studierte Ökonom hat zwei Monate in dem einzigen Flüchtlings-Erstaufnahmelager der Republik Zypern gelebt und wurde im Oktober entlassen. Er ist zurückgekommen, um hier mit Neuankömmlingen aus Nigeria zu sprechen. Er sagt: „Zypern bemüht sich um die Migranten, aber dieses Land ist damit völlig überfordert. Man sieht es an den Zuständen im Lager.“
Wie ein riesiger Slum hockt das Pournara-Camp in der weiten Ebene zwischen Äckern, Dörfern, Gewerbegebieten. Im Maschendrahtzaun fangen sich Plastiktüten und Toilettenpapier. Dahinter stehen Container und Zelte mit dem Logo der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR. Die Luft stinkt nach Fäkalien. Esinwoke zeigt auf Menschen, die sich durch Löcher im Zaun zwängen und auf die Felder laufen, um sich dort zu erleichtern. „Die Toiletten im Camp sind völlig verdreckt“, sagt der 36-Jährige aus Nigeria. „Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es in der EU so zugeht.“ Der muskulöse, drahtige Mann blickt auf einen Wohncontainer. „Normalerweise leben darin vier Leute, wir waren neun. Ich blieb, bis ich endlich mein Attest als Asylbewerber bekam und das Lager verlassen konnte.“
Mitte November gingen nach einem Streit mehr als 15 Zelte in Flammen auf
Eine Gruppe Afrikaner nähert sich schwer beladen mit Wasserflaschen dem Zaun von außen. „Wir müssen sauberes Wasser im Supermarkt kaufen, weil das Wasser im Lager krank macht“, sagt der 32-jährige Destiny Akindale aus Nigeria, ein kleiner dünner Mann. Akindale räumt freimütig ein, dass er in die EU wollte, „um Arbeit und ein besseres Leben zu finden, denn bei uns zu Hause herrschen Armut, Gewalt und Chaos.“ Zwar sei das Lagerpersonal um Sicherheit bemüht. Aber die Betreuer seien schlicht überlastet, bestätigt er.
Das Camp wurde vor vier Jahren für 1000 Personen errichtet und beherbergt inzwischen offiziell mehr als 2600. Immer wieder kommen auch bereits entlassene Geflüchtete wieder zurück. „weil sie draußen einfach keine Arbeit finden“, sagt Akindale. Im Camp aber organisieren sich Banden. Die zyprischen Anwohner:innen beklagen sich über Müll, Aggressionen, Diebstahl von Brennholz. Mitte November gingen nach einem Streit mehr als 15 Zelte in Flammen auf – zum Glück kam niemand zu Schaden.

Pournara-Camp erinnert an das berüchtigte frühere Lager Moria
Der zyprische Migrationsforscher Nikos Trimikliniotis spricht von „abstoßenden inhumanen Zuständen“ und vergleicht Pournara bereits mit dem berüchtigten früheren Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Nach dem Feuer im Camp erklärte Zyperns Innenminister Nikos Nouris, es sei nicht hinnehmbar, dass Zypern pro Kopf der Bevölkerung „weiterhin die Hauptlast bei der Zuwanderung in Europa“ trage.
Tatsächlich ächzt die kleine Inselrepublik mit ihren rund 918.000 Einwohner:innen im Verhältnis zur Bevölkerung unter der höchsten Zahl von Asylanträgen in der EU. Laut UNHCR leben hier 40 Geflüchtete pro 1000 Einwohner:innen, während es in Deutschland etwas mehr als 17 sind. Zu den bereits registrierten 40.000 Asylbewerber:innen kamen im vergangenen Jahr mehr als 20 000 hinzu, außerdem noch mindestens 16.000 Flüchtlinge aus der Ukraine. Mehrfach hat Zypern die EU bereits um Hilfe gebeten.
Der Anfang Februar gewählte neue Staatspräsident Nikos Christodoulidis hatte die Einwanderung zu einem seiner wichtigsten Wahlkampfthemen gemacht. Er wolle ein eigenes „Migrationsministerium“ gründen und die Asylverfahren und Abschiebungen stark beschleunigen, erklärte er. Doch ein Wundermittel besitzt auch Christodoulidis nicht.
Die meisten Geflüchteten wollen nicht in Zypern bleiben, sondern weiter in andere EU-Länder
Die Republik Zypern entwickele sich gerade zur Nahtstelle einer neuen, einzigartigen Zuwanderungsbewegung nach Europa, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus von der Berliner Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative“. Für Menschen aus Afrika oder Asien gebe es keinen leichteren, billigeren und ungefährlicheren Weg in die EU. „Kein anderes Land Europas ist in einer vergleichbaren Lage.“
Die EU hatte den besonders von Zuwanderung betroffenen Mittelmeerländern im Juni zwar zugesagt, im Rahmen eines „freiwilligen Solidaritätsmechanismus“ rund 8000 Asylbewerber:innen zu übernehmen. Doch bisher nahm die gesamte Union lediglich 207 Flüchtlinge aus Südeuropa auf und Deutschland kürzlich noch einmal 48 Asylbewerber:innen aus Zypern.
Zyperns noch amtierender Innenminister Nikos Nouris sagt dazu im FR-Gespräch, sein Land sei dankbar für jede Hilfe. „Aber wir glauben, dass die freiwillige Aufnahme nicht funktioniert und setzen uns daher für verpflichtende Regelungen ein.“ Er versichert, dass seine Regierung mit Nachdruck daran arbeite, die „unmöglichen Zustände“ im Pournara-Camp zu verbessern. „Aber uns fehlen schlicht die Mittel. Dabei wollen die meisten Migranten gar nicht in Zypern bleiben, sondern weiter in andere EU-Länder. Nur kommen sie von hier nicht weg, denn Zypern gehört nicht zum Schengen-Raum.“
Green Line
Ganz Zypern ist de jure zwar seit 2004 Mitglied der EU, doch sind die Gesetze der Union im Norden „ausgesetzt“. Mitten durch die Insel verläuft die von der UN-Friedenstruppe UNFICYP bewachte, mehr als 200 Kilometer lange Pufferzone „Green Line“. Sie umfasst rund drei Prozent des Inselterritoriums mit vier Dörfern. Größtenteils ist sie nicht einmal mit einem Zaun markiert. (fn)
Nouris erhebt Vorwürfe gegen die Türkei
Nouris wiederholt den von zyprischen Politiker:innen oft geäußerten Vorwurf gegen den übermächtigen Nachbarn Türkei, dieser sende absichtlich Migrant:innen aus Subsahara-Ländern, „eine Bedrohung unserer Sicherheit“. 94 Prozent der Geflüchteten seien 2022 über den türkisch besetzten Norden Zyperns gekommen. Sie flögen meist über Istanbul nach Nordzypern und würden dann von Schleusern in den Süden gebracht. Da die Türkei die Republik Zypern als Staat nicht anerkenne, seien direkte Verhandlungen mit Ankara nicht möglich. Inzwischen sei Zypern das Top-Land in der EU für irregulär eingewanderte Menschen aus dem Kongo, Nigeria, Indien und Pakistan geworden. „Hauptsächlich Wirtschaftsflüchtlinge“, behauptet Nouris.
Die Realität stellt sich etwas komplexer dar. Nachweislich führt die von keinem Land außer der Türkei anerkannte „Türkische Republik Nordzypern“, die kein Asylrecht kennt, jährlich Hunderte Menschen in ihre Heimatländer zurück, weil sie beispielsweise Straftaten verüben. Die nordzyprische Regierung schlug im Juli vor, ein gemeinsames Komitee beider Seiten einzurichten, um die irreguläre Migration einzudämmen. Darauf hat die südzyprische Seite bislang nicht reagiert.
Allerdings können administrative Initiativen das Grundproblem ohnehin nicht lösen – die offene Zypernfrage. Seit einem griechischen Putsch und der folgenden türkischen Invasion 1974 ist Zypern in den griechischen Süden und den türkischen Norden geteilt. Die von der UN-Friedenstruppe UNFICYP bewachte Waffenstillstandszone „Green Line“ ist keine internationale Grenze. Auftrag der UN-Soldat:innen ist es auch nicht, Migrant:innen an der illegalen Überquerung zu hindern, sondern nur Zwischenfälle zwischen den zyprischen Volksgruppen abzuwenden.
Mehr elektronische Überwachung
Der neue Präsident Christodoulidis will jetzt mehr elektronische Überwachung einsetzen und „physische Barrieren“ errichten. Dagegen hat UNFICYP bereits Widerspruch eingelegt, weil es die internationalen Zypern-Abkommen verletze. Auch Doros Polykarpou, Chef der südzyprischen Flüchtlingshilfsorganisation Kisa in der geteilten Hauptstadt Nikosia, hält dies für eine gefährliche Entwicklung, weil es die Green Line zu einer Außengrenze umforme. „Wir können keine harte Grenze errichten, denn niemand hier will ernsthaft die Insel teilen, und es würde die Türkei zu Gegenmaßnahmen provozieren.“ Polykarpou meint, nur in Zusammenarbeit mit Nordzypern sei das Problem zu lösen. „Aber davon sind wir weit entfernt.“
Anders gesagt: Solange die Teilung Zyperns andauert, steht das Tor zur EU im Südosten weit offen. Die aktuellen Probleme sind laut Polykarpou zwei neuen Entwicklungen geschuldet. Wegen der Auswirkungen der türkischen Wirtschaftskrise auf Nordzypern kämen Menschen über die Green Line, die eigentlich im Norden studieren wollten, plötzlich aber in existentielle Not gerieten. „Und wer gar keine Möglichkeit mehr sieht zu überleben, geht eben in den Süden, wo er die Chance hat, versorgt zu werden.“ Zum anderen kämen seit etwa zwei Jahren viele Migrant:innen über den Norden, die nur vorgäben zu studieren. „Sie haben die Route über Nordzypern in die EU entdeckt. Doch ist ihnen nicht klar, dass sie hier in einer Sackgasse landen.“ Das Problem sei daher nicht nur die ungelöste Zypernfrage, sondern auch die damit verbundene ökonomische Struktur des nordzyprischen Quasi-Staates.
Einzelheiten darüber kennt Abdessalem Dkhil. Der leger gekleidete, höfliche Tunesier arbeitet seit zwei Jahren in der nordzyprischen Hafenstadt Girne für die dortige „American University“ als Koordinator ihrer Anwerbeagenten. Die Universität mit rund 5000 Studierenden gilt als eine der zwei besten Hochschulen Nordzyperns mit internationalem Ansehen. „Die Universitäten sind die wichtigste Einnahmequelle Nordzyperns“, sagt Dkhil bei einem Treffen in Nord-Nikosia. Von den rund 400 000 Einwohner:innen des Teilstaats sind nach offiziellen Angaben mehr als ein Viertel Studierende. „Ohne sie bricht die Wirtschaft hier völlig zusammen.“

„Pro Person bekommen sie von uns 500-600 Euro Provision“
Dkhil beaufsichtigt 14 Anwerbeagenten, die für seine Universität Studierende rekrutieren. „Pro Person, die sie an Land ziehen, bekommen sie von uns 500 bis 600 Euro Provision“, sagt er. Rund 1500 Studierende würden allein an der Girne American University jedes Jahr neu immatrikuliert, in ganz Nordzypern schätzungsweise 10.000. Die Studiengebühren sind im internationalen Vergleich sehr günstig und die Diplome aufgrund türkischer Konzessionen weltweit anerkannt. Leider sei der Wettbewerb um Studierende so hart, dass einige „faule Eier“ unter den Agenten die „Kunden“ mit falschen Versprechungen auf die Insel lockten, sagt Dkhil. „Sie erzählen ihnen, dass sie hier in der EU sind, dass es günstige Wohnungen gibt und man leicht Arbeit findet – alles falsch.“
Kenneth Esinwoke brauchte keinen Agenten, um Zypern als Fluchtort zu wählen. „Ich habe gegoogelt und stieß dabei auf Zypern. Da stand, dort ist Homosexualität erlaubt“, erzählt er. Er ging in ein Reisebüro in Nigeria und erfuhr, dass er sich nur als Student an einer zyprischen Universität einschreiben müsse, um auf die Insel zu kommen. „Ich konnte kaum glauben, dass es so einfach ist.“ Bei Freunden lieh er sich das Geld für die Studiengebühren und das Flugticket, insgesamt 3500 Euro. Umso überraschter war er dann, als er feststellte, dass er nicht in der EU gelandet war. „In Nordzypern wollte ich nicht bleiben.“ Er fand einen Taxifahrer, der ihn nachts über die Green Line in den Süden fuhr. Für 270 Euro.
Nachdem er im Pournara-Camp mit dem vorläufigen Duldungsbescheid als Asylbewerber entlassen worden war, schlief Kenneth Esinwoke eine Woche auf der Straße, bis ihm ein anderer Geflüchteter ein Zimmer in einem Bergdorf für 100 Euro monatlich vermittelte. Als Asylbewerber stehen ihm 240 Euro monatliche Hilfszahlung zu. Manchmal findet er einen Tagesjob als Gebäudereiniger oder auf dem Bau. „Davon kann ich kaum leben“, sagt der Nigerianer. „Trotzdem bin ich froh, hier zu sein. Hier kann ich mich wenigstens sicher fühlen.“ (Frank Nordhausen)