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Bosnien und Herzegowina: Zwischen Loslösung und Zusammenleben

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Von: Adelheid Wölfl

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Die eigene Polizei der Entität Republika Srpska ist eine Folge ihres Sonderstatus.
Die eigene Polizei der Entität Republika Srpska ist eine Folge ihres Sonderstatus. © AFP

Der serbisch-nationalistische Teil Bosniens will sich seit 30 Jahren abspalten – andere wollen Koexistenz.

Kürzlich hat sich Boris M., ein Serbe aus Banja Luka, der schon lange in Sarajevo lebt, geärgert. Bei einem Ausflug auf die Berge, in den Landesteil Republika Srpska, hat er die Leute reden gehört, wie sie sagten, dass die Entität sich doch endlich abspalten und dass die bosnischen Serben und Serbinnen ihren eigenen Staat haben sollten. „Hier in Bosnien leben wir zusammen. Wenn Du das nicht willst, dann musst Du nach Serbien gehen!“, meinte Boris dazu.

30 Jahre nach dem Beginn des Kriegs gegen den unabhängigen Staat Bosnien-Herzegowina am 6. April 1992, wollen Nationalist:innen der Bevölkerung noch immer einreden, dass sie nicht zusammenleben, dass sich Orthodoxe, Muslim:innen und Katholik:innen besser voneinander trennen sollten, dass ein Staat mit Menschen, die verschiedene kulturelle Identitäten haben, nicht funktionieren könne. Seit einigen Monaten versuchen diese Nationalist:innen mit Hilfe aus dem Ausland wieder einmal Bosnien-Herzegowina politisch und rechtlich kaputt zu schießen.

Der Kampf um den Erhalt des multiethnischen Bosnien und Herzegowina, das multireligiöse Herz des Balkans, hat vor 30 Jahren begonnen und seitdem nie aufgehört. Azra Zornic erinnert an den ideologischen Beginn der Zerstörung, an den Entwurf des Memorandums der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste im Jahr 1986. Dieses betonte die angeblich schwierige Lage und Ungleichheit des serbischen Volkes in Jugoslawien und insbesondere im Kosovo.

Bosnien und Herzegowina: Kampf um den Erhalt des multireligiösen Herzens des Balkans

Die Akademie behauptete damals, es werde ein „physischer, politischer, rechtlicher und kultureller Völkermord an der serbischen Bevölkerung“ durchgeführt. Die ‚serbische Frage‘ werde solange nicht gelöst sein, „bis die vollständige nationale und kulturelle Einheit der Serben erreicht ist, unabhängig davon, wo sie leben“, hieß es da. Man wollte von Belgrad ein ethnisch definiertes Groß-Serbien schaffen. Viele glaubten die Propaganda von der angeblichen Bedrohung der serbischen Bevölkerung tatsächlich, obwohl in den wichtigsten staatlichen Institutionen Angehörige der serbischen Volksgruppe in Wahrheit dominierten.

Gerade wegen dieser großserbischen Vorherrschaft im Rest von Jugoslawien begann man auch in Bosnien-Herzegowina zu streiten. Die bosniakische Partei für Demokratische Aktion (SDA) und die kroatische Demokratische Union (HDZ) sprachen sich für den Austritt aus Jugoslawien aus, während die Führung der serbischen Demokratischen Partei (SDS) dagegen war.

Ende Februar, Anfang März 1992 – da waren Slowenien und Kroatien bereits unabhängig – wurde in Bosnien-Herzegowina ein Referendum abgehalten. „Sind Sie für ein souveränes und unabhängiges Bosnien und Herzegowina, einen Staat gleichberechtigter Bürger, in dem die Menschen von Bosnien-Herzegowina – Muslime, Serben, Kroaten und Angehörige anderer Völker leben?“, lautete die Frage, die zu mehr als 99 Prozent positiv beantwortet wurde. Allerdings boykottierten viele nationalistische Serb:innen die Abstimmung. „Bis zu diesem Zeitpunkt lebten wir alle in einem Land der Brüderlichkeit und Einheit und waren daher für die Frage der ethnischen Zugehörigkeit nicht sensibel“, erinnert sich Zornic. „Damals dachten die Bürger über die Schaffung eines demokratischen und europäischen Staates nach, der allen seinen Bürgern gleiche Rechte gewähren würde.“ Da die SDS jedoch gegen einen solchen gemeinsamen Staat war, brach kurz nach dem Referendum der Krieg aus. Sarajevo wurde dreieinhalb Jahre eingekesselt und belagert.

Bosnien und Herzegowina: Milorad Dodik arbeitet an der Sezession

Der Krieg wurde von paramilitärischen Truppen der separatistischen serbischen Armee begonnen, die bereits gut vorbereitet und mit Unterstützung der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) das Ziel hatte, Gebiete zu besetzen und an „Groß-Serbien“ anzuschließen. Und dies, obwohl Bosnien-Herzegowina als unabhängiger Staat international anerkannt war.

Zornic meint, dass das Referendum gerechtfertigt, aber die Frage von damals offensichtlich falsch gewesen sei. Denn diese spiegle sich noch immer in der heutigen politischen Situation wider. Der Chef der größten bosnisch-serbischen Partei, Milorad Dodik, arbeitet heute noch beharrlich an der Sezession. Der Vorsitzende der größten bosnisch-kroatischen Partei, Dragan Covic, fordert eine territoriale Neuordnung des Staates durch die Bildung einer dritten „kroatischen“ Einheit.

Der Chef der größten bosniakischen Partei, Bakir Izetbegovic, sei tief in die Korruption mit anderen Politiker:innen verstrickt, so Zornic. „In diesem bosnischen Topf werden entrechtete Bürger geköchelt und aller Bürger- und Menschenrechte beraubt!“, beschreibt sie den Zustand.

Zornic, die selbst zu keiner Volksgruppe gehören, sondern einfach eine Bürgerin sein will, hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt und Recht bekommen. Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina sollte längst geändert werden, damit auch Bürger:innen wie Zornic ins Staatspräsidium oder ins Haus der Völker gewählt werden können. Zurzeit können sie das nämlich nicht. Doch so eine Verfassungsänderung wird von den Nationalist:innen verhindert.

Bosnien und Herzegowina: Im Europa des 21. Jahrhunderts scheint sich nichts geändert zu haben

Ein anderer, der trotz alledem ebenfalls noch immer dafür kämpft, dass Bosnien-Herzegowina endlich zu einem Staat gleichberechtigter Bürgerinnen und Bürger wird, ist der Dekan der juridischen Fakultät von Vitez, Goran Šimic. „Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der die Menschen einander und andere Menschen respektierten und in der wir uns als Bosnier und Herzegowiner fühlten“, erzählt er von der Zeit vor dem Krieg. „Es war eine Zeit, in der man in den Schulen lernte und es öffentliche Meinung war, dass wir Brüder und Schwestern sind und der einzige wirkliche Unterschied darin besteht, ob man ein guter oder ein schlechter Mensch ist, wo die Leute entweder am Freitag oder am Sonntag zum Gebet gingen und wo wir alle Feiertage, „unsere“ und „ihre“, mit der gleichen Leidenschaft feierten.“

Šimic erinnert sich daran, wie seine Großmutter 200 Ostereier färbte, obwohl die Familie in einem mehrheitlich muslimischen Dorf lebte, nur um sie aus großer Freude an die muslimischen Kinder zu verschenken. „Irgendwann waren wir dann gezwungen, uns voneinander zu trennen und zu denken, dass wir alle verschieden seien und auf keinen Fall zusammenleben sollten“, erzählt der Dekan über die bosnische Tragödie.

„30 Jahre später ist es mir immer noch gesetzlich und verfassungsrechtlich untersagt, Bosnier und Herzegowiner zu sein“, empört er sich.

Während im Rest der Föderation am 30. Jahrestag des Kriegsbeginns vor allem der Hunderttausenden Vertriebenen und Zehntausenden Toten zwischen 1992 und 1995 gedacht wird, feierte man im Parallel-Universum der Republika Srpska kürzlich den 30. Jahrestag der Gründung der eigenen Polizei - mit Unterstützung und Besuch des Innenministers des Nachbarstaates Serbien. Manch einer fühlte sich in das Jahr 1992 zurückgebeamt.

Im Europa des 21. Jahrhunderts, 30 Jahre, 100 000 Tote, mehr als eine Million Vertriebene, ethnische Säuberungen, zerstörte Landschaften und Wirtschaften später, scheint sich nichts geändert zu haben: Es gibt noch immer die Bosnier:innen und Herzegowiner:innen, die zusammenleben wollen und es gibt noch immer die Menschen, die von einem Groß-Serbien träumen.

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