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Die Zukunft heißt Kanzler oder Lehrer

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Von: Karl Doemens

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Geht auch als Fremdenführer: Gabriel in der Kaiserpfalz von Goslar.
Geht auch als Fremdenführer: Gabriel in der Kaiserpfalz von Goslar. © dpa

SPD-Chef Sigmar Gabriel präsentiert sich in seiner Heimatstadt als Volksversteher. Alles deutet auf eine Kanzlerkandidatur des 56-Jährigen hin. Doch geht die Wahl verloren, dürfte das Gabriels Karriereende bedeuten.

Eigentlich müsste er jetzt zu Hause den Tisch decken. In der Frühe hat er in Berlin als Vertreter der urlaubenden Kanzlerin die Kabinettssitzung geleitet, dann den Mittagszug nach Goslar genommen und um kurz nach drei Uhr seine Tochter Marie aus der Kita abgeholt. Ein paar Besorgungen schließen sich gewöhnlich an. Um 18.30 Uhr sperrt Ehefrau Anke ihre Zahnarztpraxis zu. „Die Anforderung ist, dass ich dann gefälligst für das Abendessen zu sorgen habe“, sagt Sigmar Gabriel schmunzelnd.

Stattdessen steht der Vizekanzler an diesem Mittwochabend in Polohemd und Sakko vor der tausend Jahre alten Kaiserpfalz hoch über den roten Ziegeldächern seiner Heimatstadt und hält eloquent einen stadthistorischen Vortrag mit aktuellen politischen Bezügen. Hier, „wo das historische Zentrum Deutschlands gelegen hat“, ist er vor 56 Jahren als Sohn eines Alt-Nazis geboren worden und hat sich nach einer schwierigen Kindheit politisch sozialisiert. Mit Zwanzig protestierte er trotz der Mahnung der SPD-Führung zur Zurückhaltung („Ich hab’ mir gedacht: Die ha’m sie nicht alle!“) mit einem kleinen Häuflein gegen eine Kundgebung von Franz-Josef Strauß. Der erste politische Auftritt brachte Gabriel die Androhung eines Parteiausschlusses ein. Dazu kam es dann zwar nicht. Aber der SPD-Chef erzählt die Geschichte immer noch gern.

Vorne eine Reiterstaue von Kaiser Barbarossa („der ist bei seinem letzten Kreuzzug nach Jerusalem in der Türkei gestorben“). Rechts der Stammsitz der Industriellenfamilie Siemens („die kamen von hier, nicht aus München!“). Und in der Ferne vor der Silhouette des Harzes das Grundstück Gabriels, dessen Mutter aus Ostpreußen und dessen Vater aus dem Erzgebirge kam. „Wir sind Flüchtlinge“, sagt Gabriel selbstverständlich. Irgendwie wirkt Goslar wie ein Konzentrat der Republik.

Es ist kein Zufall, dass Gabriel die Berliner Hauptstadtpresse in diesen 50.000-Seelen-Ort geladen hat. Hier hat er die schlimmsten Qualen seines Politikerlebens durchlitten, als er 2003 den Ministerpräsidenten-Posten verlor und zum Pop-Beauftragten der SPD schrumpfte.

Hier hat er gegen das Berliner Polit-Establishment gewettert, wenn es die Medien mal wieder nicht gut mit ihm meinten. Berlins Mitte gehe ihm „manchmal einfach auf den Geist“, sagte er im Sommer 2013: „Deutschland ist eher wie Goslar. Die normalen Menschen ticken nicht so weltfremd und schräg wie die Politikversteher in Berlin-Mitte.“

Der nächste Schritt

Doch inzwischen ist er Vizekanzler, und in den vergangenen Monaten ist in ihm eine Entscheidung gereift: Er will als SPD-Kanzlerkandidat antreten. Offen sagt er das nicht. Erst Anfang 2017 soll die Entscheidung offiziell fallen. Aber wer Gabriel beobachtet, hat keine Zweifel. Nun muss der Kandidat an Tiefe und Menschlichkeit gewinnen. Eine Illustrierten-Homestory mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter im Garten machte vor ein paar Wochen den Anfang. Bereitwillig erklärte Ehefrau Anke, sie werde weiter als Zahnärztin praktizieren, wenn Gabriel ins Kanzleramt einziehe. Nun geht Gabriel mit der öffentlichen Tour zu seinen biografischen Wurzeln den nächsten Schritt.

„Wer wissen will, wie Sigmar Gabriel wirklich ist, muss ihn in Goslar erleben“, haben Vertraute des SPD-Chefs schon immer gesagt. In dem mittelalterlichen Bilderbuchstädtchen mit Kopfsteinpflaster und viel Fachwerk erlebt man einen Politiker, der mit sich im Reinen zu sein scheint. Die schlechten Umfragen? Ach was, erstmals bröckelt das Ansehen von CDU-Chefin Angela Merkel.

Der SPD-interne Streit über das Freihandelsabkommen Ceta? Ärgerlich, aber lösbar. Die Klatsche des Düsseldorfer Oberlandesgerichts wegen der Edeka-Tengelmann-Fusion? Stört in der SPD kaum jemand. Notfalls gibt Gabriel halt den Robin Hood der kleinen Verkäuferinnen, für deren Arbeitsplätze er kämpft.

Hört man dem SPD-Chef länger zu, werden auch erste Umrisse einer Wahlkampfstrategie ahnbar. Von der Bodenständigkeit der Menschen redet er viel. Von einer Welt, in der es um Kitas, Verkehrsberuhigung und die Rente geht. Von dem Bedürfnis nach Halt und Sicherheit inmitten der ängstigenden Veränderungen durch Globalisierung, Flüchtlingskrise und Terrorgefahr. Fertig ausformuliert ist das noch nicht. Aber es gärt in ihm, er wird etwas daraus machen.

Der Erfolg ist keineswegs garantiert. Im Gegenteil: Geht die Bundestagswahl 2017 verloren, dürfte das für Gabriel das Ende seiner Karriere bedeuten. Ganz fremd ist ihm der Gedanke offenbar nicht. In Goslar berichtet er von seiner Zeit in der Erwachsenenbildung, als er Spätaussiedlern Deutsch beibrachte. Der Arbeitsvertrag ruht nur: „Ich könnte, wenn alles schief geht, sofort wieder anfangen“, sagt Gabriel. Heute würde er Flüchtlinge unterrichten.

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