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Umfragen zum Angriff Russlands: Wollen die Russinnen und Russen wirklich diesen Krieg?

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„Diejenigen, die Vertrauen in staatliche Medien haben, sind überzeugt von Propaganda-Klischees über ,ukrainische Nazis‘“, sagt Fabian Burkhardt. 
„Diejenigen, die Vertrauen in staatliche Medien haben, sind überzeugt von Propaganda-Klischees über ,ukrainische Nazis‘“, sagt Fabian Burkhardt.  © Pavel Bednyakov/picture alliance

Umfragen deuten auf eine Mehrheit für Putins Kurs in Russland hin. Das hat Gründe, denn vor allem Alter und Medienkonsum bestimmen die Einstellung zum Krieg.

Moskau – Ein Blick auf Umfrageergebnisse aus Russland scheint nahezulegen, dass die überwiegende Mehrheit hinter Wladimir Putins Entscheidung steht, gegen die Ukraine einen Vernichtungskrieg zu führen. Laut dem staatlich kontrollierten Umfrageinstitut WZIOM wuchs die Unterstützung der „militärischen Spezialoperation“, wie der Krieg in Russland genannt werden muss, von 65 Prozent Ende Februar auf 76 Prozent Ende März an. Mit 81 Prozent Unterstützung lagen die Zahlen des unabhängigen Lewada-Zentrums sogar noch höher.

Diese Werte sollten wir allerdings nicht für bare Münze nehmen, denn Umfragen sind für den Kreml zur Waffe geworden. In Anlehnung an den bekannten Spruch des Zaren Alexander III., dass Russland nur zwei Verbündete habe, die Armee und die Marine, verortet der Soziologe Alexej Titkow die zwei Verbündeten von Putins Russlands heute bei den Raketenstreitkräften und den Kreml-kontrollierten Umfrageinstituten WZIOM und FOM.

Umfragen zum Ukraine-Krieg: Freier Wettbewerb der Ideen ist nahezu unmöglich

Entscheidend dafür, warum es in autoritären Regimen wie Russland so schwierig ist, eine repräsentatives Meinungsbild zu erlangen, sind vor allem zwei Ebenen: die des politischen Systems und die der Befragten. Die Schließung von unabhängigen Medien, die Propaganda und gezieltes Framing („Spezialoperation“ statt „Krieg“) in staatlichen und staatlich kontrollierten Medien, Kriegszensur, das Ausschalten jeglicher politischer Opposition, Repressionen gegen Andersdenkende, all dies macht auf der systemischen Ebene einen freien Wettbewerb der Ideen nahezu unmöglich.

Unabhängig von der „wahren“ privaten Überzeugung der Befragten führt dieses restriktive soziale und politische Umfeld zu Verzerrungen, Befragte falsifizieren ihre Antworten bewusst: etwa aus Furcht vor Repressionen oder aus dem Bedürfnis heraus, die gleiche Meinung wie die der wahrgenommenen Mehrheit zu vertreten; das nennt man „soziale Erwünschtheit“.

Der Autor, die Serie

Fabian Burkhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.

Die Menschen in der Ukraine brauchen Frieden, aber es herrscht Krieg. Welche Wege können zum Frieden führen? Welche Rolle soll Deutschland dabei spielen?

In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen.

Wollen die Russinnen und Russen den Krieg? Tatsächliche Unterstützung liegt niedriger

Dies wiederum stellt Umfrageinstitute vor das Problem der Selbstselektion: Die ohnehin schon geringe Zahl derer, die überhaupt bereit sind, an einer Umfrage teilzunehmen, bekommt noch eine weitere Schieflage, da eher jene teilnehmen, die dem Krieg positiv oder zumindest neutral gegenüberstehen. Einzelne Einschränkungen lassen sich durch ausgefeilte Methoden zumindest teilweise umgehen: So fanden Philipp Chapkovsky und Max Schaub in einem Experiment heraus, dass die tatsächliche Unterstützung für den Krieg eher bei 53 als bei 68 Prozent liegen könnte.

Auf den Prozentpunkt genau wird es sich ohnehin nicht festmachen lassen, aber eines ist klar: Die Kriegsunterstützung ist weit verbreitet. Qualitative Interviews von Swetlana Erpylewa zeigen verschiedene Motive auf: Diejenigen, die Vertrauen in staatliche Medien haben, sind überzeugt von Propaganda-Klischees über „ukrainische Nazis“. Andere Russinnen und Russen unterstützen nationalistisches oder gar imperialistisches Gedankengut und glauben, dass die Ukraine als „Brudernation“ unbedingt zur „Russischen Welt“ gehören müsse. Außerdem sei der militärische Eingriff gerechtfertigt, um das Vorrücken der Nato nach Osten zu verhindern.

Dr. Fabian Burkhardt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Politikwissenschaftliche Forschungsgruppe, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung. Bild: IOS/Wolfgang Steinbacher
Dr. Fabian Burkhardt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Politikwissenschaftliche Forschungsgruppe, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung. © Wolfgang Steinbacher

Widersprüchliche Ansichten: Kriegsunterstützung ist in Russland weit verbreitet

Nichtsdestotrotz zeigen vor allem auch die vielen Gespräche, die der Journalist Schura Burtin geführt hat, dass Russinnen und Russen durchaus widersprüchliche Ansichten miteinander vereinigen können – aus Realitätsverweigerung oder politischem Desinteresse. Bei Umfragen neigen diese Personen aufgrund von Sanktionen und politischem Konflikt eher dazu, der politischen Führung und damit dem Krieg zuzustimmen.

Doch wer sind jene, die gegen den Krieg sind? Der Petersburger Soziologe Michail Sokolow fasst es prägnant zusammen: „Wer jünger als 30 Jahre ist, in einer Großstadt lebt, studiert hat und kein Fernsehen schaut, unterstützt die russische Armee mit einer Wahrscheinlichkeit von über 80 Prozent nicht.“

Die russische Mittelschicht profitiert vom Staat – Ärmere leiden stärker unter Sanktionen

Gerade die Mittelschicht, auf die in Deutschland viel zu lange gebaut wurde, profitiert vom Staat als Angestellte in der Verwaltung, bei Staatsunternehmen oder den Sicherheitsorganen und steht deswegen dem Krieg unkritisch gegenüber. Es sind eher die ärmeren Schichten, die sich ein schnelles Kriegsende wünschen, weil diese jetzt schon die Preissteigerungen merkbar zu spüren bekommen. Alter und Medienkonsum sind also die bedeutendsten Faktoren, die die Einstellung zum Krieg bestimmen. Daraus ergeben sich insbesondere zwei Strategien, mit denen wir jenen Millionen Russinnen und Russen begegnen sollten, die Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht unterstützen: Jenen, die mobil und auswanderungswillig sind, sollte in der EU dauerhafter Aufenthalt und Arbeitserlaubnis unkompliziert ermöglicht werden.

Zu denjenigen Jungen, Gebildeten und dem Staatsfernsehen Abgewandten, die in Russland verblieben sind, muss über das Internet eine möglichst engmaschiger Kommunikationsraum erhalten werden: Es gilt, den Zugang zu Diensten und Apps von Netflix, Videospielen bis zur Bildungsplattform Coursera oder Paypal zu erhalten. Von zentraler Wichtigkeit ist allerdings, russische Qualitätsmedien im Ausland aufzubauen, die weiterhin jene in Russland erreichen, die der russischen Staatspropaganda den Rücken gekehrt haben. (Fabian Burkhardt)

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