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Wolfgang Kaleck: „Es wird noch zu oft mit zweierlei Maß gemessen“

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Von: Sabine Hamacher

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„Entegegen geltenden Rechts“: In Argentinien wird ohne Mitsprache der indigenen Gemeinschaften Lithium abgebaut.
„Entegegen geltenden Rechts“: In Argentinien wird ohne Mitsprache der indigenen Gemeinschaften Lithium abgebaut. © Martin Silva/afp

FR-Event: Kann eine Welt gerecht sein, die das Völkerrecht nicht für alle gleich anwendet? Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck über russische Kriegsverbrechen, grenzenlose Solidarität und die währende Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Herr Kaleck, die Menschenrechte sind eine grandiose Errungenschaft. Würden sie konsequent gelebt, wäre die Welt rundum besser. Warum ist diese Vorstellung eine Utopie – und was macht es so schwer, die Menschenrechte umzusetzen?

Menschenrechte müssen immer wieder von Neuem und auch gegen jemanden durchgesetzt werden – oft gegen mächtige Akteure wie die Staaten oder gegen transnationale Unternehmen. Dieser Prozess wird nie zu Ende sein. Deswegen darf man sich auch nie auf dem vermeintlich Erreichten ausruhen. Aber sie bieten eine gute normative Basis. Das ist der eine Grund, warum ich auch von der konkreten Utopie der Menschenrechte spreche.

Was ist der andere Grund?

Der andere ist, dass das politische Programm der Menschenrechte weit über das hinausgeht, was in Gesetzestexten festgeschrieben ist. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es in Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, es ist klar, dass das ein Zustand ist, den es zu schaffen gilt, der aber wahrscheinlich nie erreicht wird. Das ist der Öffentlichkeit schwierig zu vermitteln. Die Menschenrechte stehen auch dafür, dass sie ein überschießendes Moment haben, das über den normativen Gehalt von Gesetzen und Verfassungen hinaus reicht – ein utopisches Moment.

Das heißt, der Weg ist lang und steinig. Die Lage ist aber nicht hoffnungslos?

Die Lage ist nur hoffnungslos, wenn zu viele Leute meinen, dass die Lage hoffnungslos ist. Kluge Beobachterinnen und Beobachter der 68er-Proteste kommentieren die aktuellen Krisen so: Der Unterschied zwischen damals und heute ist, dass damals mehr Leute daran glaubten, dass Veränderungen möglich sind.

Erleben wir denn nicht gerade eine besonders krisenhafte Zeit?

Natürlich ist der Angriffskrieg gegen die Ukraine schlimm, keine Frage, er findet sehr nah an Deutschland statt und betrifft uns in besonderer Weise. Aber wir haben auch davor, seit der Erklärung der Menschenrechte 1948, nicht in einer kriegsfreien Welt gelebt. Es gab eine Kette von Kriegen, und Europa kann sich glücklich schätzen, dass es zwar in vielfältiger Weise beteiligt war, aber vor allem auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien ein „heißer“ Krieg tobte. Ich möchte auch daran erinnern, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den vergangenen 20 Jahren sehr viel mit der Aufarbeitung der Kriege in der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung und Russlands Krieg in Tschetschenien zu tun hatte. Es gab Kriege, und es gab und gibt viele Tote aus anderen Gründen – mir widerstrebt die Vorstellung so sehr, dass die Welt heil gewesen wäre. Nein, die Welt war nie heil. Beim Kampf für die Menschenrechte geht es darum, uns alle zu motivieren. Es hat nämlich in den vergangenen Jahrzehnten neben den unbestreitbaren Rückschlägen und Horrorereignissen auch positive Entwicklungen gegeben.

Haben Sie Beispiele?

In diesem Jahr wird die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 75 Jahre alt, das ist ein sehr erfreuliches Jubiläum. Dann jährt sich der fatale Militärputsch von Augusto Pinochet in Chile zum 50. Mal. Wir begehen aber auch – und das ist hier das Positive – den 25. Jahrestag der Verhaftung von Pinochet im Oktober 1998 in London. Dieses Ereignis hat unglaublich viel bewegt. Es hat gezeigt, dass wir auf nationaler Ebene, als Menschenrechtsorganisation, als Juristinnen und Juristen auch das Recht benutzen können, um Verbrecher gegen die Menschlichkeit außerhalb ihres Herrschaftsgebietes zur Verantwortung zu ziehen. Natürlich gibt es da noch viele Verbesserungsmöglichkeiten.

Was meinen Sie?

Es wird noch zu oft mit zweierlei Maß gemessen. Wir waren am großen Prozess vor dem Oberlandesgericht in Koblenz gegen zwei syrische Folterer beteiligt, in dem letztlich das Assad-Regime als Verbrechen gegen die Menschlichlichkeit eingestuft wurde. Es ist gut und richtig, dass von der Bundesanwaltschaft akkurat ermittelt und dann vor Gericht verhandelt wurde. Aber natürlich müssen die Prinzipien und Standards, die dort entwickelt wurden, auch auf andere angewandt werden. Und zwar nicht nur auf die jeweiligen Feinde, sondern auch auf diejenigen, die beispielsweise vor 20 Jahren einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Irak begonnen haben; und die dann im Irak Zehntausende Menschen gefoltert haben, von denen etliche zu Tode kamen: Das waren Deutschlands Verbündete, die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich Großbritannien. So richtig es ist, die russischen Kriegsverbrechen jetzt vor Gericht zu stellen, so hart muss man auch daran erinnern, dass manchmal das Recht auch gegen die eigenen Interessen und Bündnispartner durchgesetzt werden muss, um tatsächlich eine völkerrechtsgeleitete Weltordnung zu erreichen. Es ist traurig, dass das nicht passiert ist.

Was ist damals schief gelaufen?

Dieselbe Debatte, die man jetzt bei Putins Angriffskrieg angestoßen hat, hätte man schon 2003 führen müssen: Dass das internationale Recht nicht ausgereift ist, dass ein neues Tribunal gegen völkerrechtswidrige Kriege zu schaffen ist. Im Irak-Krieg und in seiner Folge sind immerhin Hundertausende Menschen ums Leben gekommen, wenn auch – und das ist ein wichtiger Unterschied – die Kriegsstrategie eine andere war, es gab nicht diese zerstörerische Art der Kriegsführung. Das Recht war damals noch nicht reif, und es haben viel zu wenige Menschen darauf gedrungen, es entsprechend zu erweitern. Viel schlimmer finde ich aber: Nach 2003 wurden von den USA und Großbritannien Zehntausende Menschen entgegen des absoluten Folterverbotes gefoltert. Es war sowohl im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als auch in den Statuten von Deutschland, Frankreich und Spanien verankert. Wir haben als Anwälte und Anwältinnen immer wieder vergeblich versucht, die Staatsanwaltschaften und Gerichte dazu zu bewegen, in Fällen von nachgewiesener Folter Anklage zu erheben. Juristisch wäre das relativ schnell möglich gewesen – etwa gegen den ehemaligen US-Präsidenten George Bush, nachdem er die Immunität verloren hatte, gegen seinen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und gegen die Juristen, die behauptet hatten, dass gefoltert werden dürfe, wenn es gegen Terroristen geht. Dass hier nicht gehandelt wurde, fällt uns jetzt auf die Füße.

Der Utopische Raum

Live erleben können Sie unseren Interviewpartner am Donnerstag, 23. März, in der nächsten Folge der Reihe „Der utopische Raum“. Wolfgang Kaleck spricht mit der Publizistin Heike Kleffner über das Thema „Die Utopie der Menschenrechte“ .

Menschenrechte gelten für alle, überall auf der Welt. So ist es in vielen Dokumenten und Verträgen festgeschrieben, aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Was sind Menschenrechte wert, wenn die Möglichkeit fehlt, sie durchzusetzen? Das sind die Fragen, die im Mittelpunkt des Vortrags und der Diskussion stehen werden. Die Reihe „Der utopische Raum“ ist eine Kooperation der Stiftung Medico international, des Instituts für Sozialforschung und der Frankfurter Rundschau.

Kaleck unterstützt mit dem von ihm gegründeten European Center for Constitutional and Humanitarian Rights (ECCHR) Menschen in aller Welt, die juristisch gegen die Verletzung ihrer Rechte vorgehen.

Die Abende der Reihe führen in diesem Jahr thematisch zur ersten Etappe der „Global Assembly“, die am 14. Mai 2023 aus Anlass des 175. Jahrestages der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche beginnt. Hier werden Menschen aus aller Welt zusammenkommen, die sich gegen Verletzungen der Menschenrechte und für deren Stärkung engagieren. Die Versammlung soll ein Zeichen setzen, dass Demokratie und grundlegende Rechte, um die 1848 im nationalen Rahmen gerungen wurde, heute nur noch global zu denken sind.

Die Veranstaltung ist am 23. März und beginnt um 19 Uhr im Medico-Haus, in der Lindleystraße 15, Frankfurt. Einen Livestream gibt es auf dem Youtube-Kanal von Medico international. FR

Mit welchen Folgen?

Wenn man den Prozess der Erosion des Völkerrechts beschreibt, darf man nicht bei Russland und China stehenbleiben, sie haben ohnehin selten das Völkerrecht geachtet. Hätte der Westen sich damals selber an das Völkerrecht gehalten oder zumindest eigene Vergehen geahndet, wäre er heute in einer stärkeren Position. Es darf keine Doppelstandards geben. Das kann natürlich nicht zu der Konsequenz führen, dass die russischen Kriegsverbrechen nicht ermittelt und nicht geahndet werden. Deswegen unterstützen wir derzeit auch ukrainische Organisationen.

Wie steht es um die Aufklärung dieser russischen Menschenrechtsverbrechen in der Ukraine?

Um nochmal einen Moment innezuhalten: Ein Krieg, wie er jetzt in der Ukraine geführt wird, hätte noch vor 25 Jahren nicht zu dieser Reaktion geführt: dass Strafverfolgungsbehörden der Ukraine, aber auch anderer Staaten wie Deutschland sowie der Internationale Strafgerichtshof sofort Ermittlungen aufnehmen.

Ein großer Erfolg.

Ja. Die ukrainischen Strafbehörden waren gut vorbereitet, weil sie sich schon seit der Besetzung der Krim und von Teilen der Donbass-Region 2014 und 2015 damit beschäftigt hatten. Die dortigen Kollegen waren daher sofort in der Lage, eine juristische Antwort zu geben. Das ist ein bemerkenswerter Schritt nach vorn: Nicht alle Energie wird auf das Militärische fokussiert, sondern es ist klar, dass es zur Wiederherstellung des Rechts auch notwendig ist, sich mit dem massiv begangenen Unrecht auseinanderzusetzen. Und dafür zu sorgen, dass vom eigenen Lager nicht derartige Verbrechen begangen werden. Wenn die ukrainische Regierung sagt, es ist Unrecht, Zivilpersonen zu töten, Menschen zu foltern und zu vergewaltigen, bindet sie sich selbst daran. Das ist kein schlechtes Zeichen, auch wann einzelnen Verstöße auch von ukrainischer Seite begangen werden. Aber zumindest diskursiv steht die ukrainische Seite zum Recht, während es auf russischer Seite integraler Teil der militärischen Strategie ist, Kriegsverbrechen zu begehen, das hat man schon in Tschetschenien und später in Syrien gesehen.

Wie steht es um die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte?

Da gäbe es viel mehr zu tun. Immerhin ist zu Jahresbeginn in Deutschland das Lieferkettengesetz in Kraft getreten. Darin wird Unternehmen, die außerhalb von Europa agieren, zumindest eine gewisse Verantwortung dafür zugeschrieben, dass in ihren Liefer- und Produktionsketten keine groben Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Auch wenn es sich einige etwas robuster gewünscht hätten – vor 15 Jahren war ein solches Gesetz in Deutschland noch unvorstellbar. Selbst Teilen der Wirtschaft ist klar geworden, dass es einer Regulation bedarf. Allein der Gedanke, dass wir uns auch darum zu kümmern haben, unter welchen Bedingungen unsere Kleidung produziert wird oder Rohstoffe, die wir hier verbrauchen, gewonnen werden – das ist der Einstieg in eine neue Auseinandersetzung.

Diese Fragen spielen auch eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Klimakatastrophe.

Richtig. Ich habe gerade mit einem argentinischen Künstler darüber gesprochen, Tomás Saraceno. Er war im Januar im Norden von Argentinien, wo Lithium in einer Region abgebaut wird, in der es – zum Glück – noch indigene Gemeinschaften gibt. Sie sind entgegen geltenden Rechts nicht gefragt worden, was da auf ihrem Land passiert. Nun stehen ihnen harte Zeiten bevor, weil zur Gewinnung des Lithiums eine ungeheure Menge Wasser benötigt wird, die es in dieser sehr trockenen Gegend leider nicht gibt. Auch bei der Gewinnung von grüner oder sauberer Energie müssen die Rechte derer beachtet werden, die dort leben, und sie müssen auch an den Profiten beteiligt werden. Wir sind von Problemen betroffen, die ein planetarisches Ausmaß haben – die kann man nur auf globaler Ebene lösen. Das hat auch die Pandemie gezeigt.

Sie sprechen von den Impfstoffen?

Ich spreche vom Zugang zu wirksamen Impfstoffen, da hat der Westen erstmal nur auf sich geschaut. Solidarität darf nicht an Grenzen enden, das ist die falsche Botschaft. Wir müssen aber auch den Begriff der Menschenrechte inhaltlich noch viel weiter fassen und sie um eine feministische, eine ökologische und eine dekoloniale Dimension erweitern. Das bedeutet natürlich auch, andere Bewegungen – aber auch Künstlerinnen und Künstler mit in diese Kämpfe einzubeziehen. Die Menschenrechte dürfen nicht länger die Aufgabe von ein paar Juristen und Juristinnen sowie Menschenrechtsorganisationen sein.

Wolfgang Kaleck , Jahrgang 1960, ist Rechtsanwalt in Berlin. 2007 gründete er gemeinsam mit weltweit arbeitenden Anwält:innen das European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin; seither ist er Generalsekretär des ECCHR.
Wolfgang Kaleck , Jahrgang 1960, ist Rechtsanwalt in Berlin. 2007 gründete er gemeinsam mit weltweit arbeitenden Anwält:innen das European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin; seither ist er Generalsekretär des ECCHR. © Nihad Nino Pusija/ECCHR

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