Experte sicher: Putin wird den Ukraine-Krieg aus einem einfachen Grund nicht enden lassen
Solange der Ukraine-Krieg andauert, muss sich Wladimir Putin nicht mit innenpolitischen Unruhen auseinandersetzen, sagt Konfliktforscher Mikhail Polianski.
Mehr als 15 Monate nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat sich die düstere Erkenntnis breit gemacht, dass der Krieg nicht so bald enden wird. Doch während auf der Hand liegt, warum die Ukraine diesen Krieg weiterführt, bleibt die Motivation des russischen Präsidenten Wladimir Putin, den Krieg fortzusetzen, rätselhaft. Russland ist nicht in der Lage, das Blatt militärisch zu wenden, während der nationale und internationale Druck weiter zunimmt. Mit dem Fortgang des Krieges scheint Putin das Risiko einzugehen, das zu verlieren, was er bereits erobert hat. Doch warum sollte er das in Kauf nehmen?
Die Fortsetzung des Krieges liegt nicht in Russlands, wohl aber in Putins Interesse. Der Ukraine-Krieg ist für Putin zur wichtigsten politischen und ökonomischen Ressource geworden. Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass er ihn beendet, solange er an der Macht ist. Wie Studien zeigen, tragen autokratische Kriege in den meisten Fällen dazu bei, dass die Herrschenden ihre Macht festigen, statt sie zu verlieren. Je länger der Krieg andauert, desto geringer ist die Chance, dass sie gestürzt werden können.

Für Putin trägt der Ukraine-Krieg dazu bei, seine Macht zu sichern
Für Putin trägt der Krieg in zweierlei Hinsicht dazu bei, seine Macht zu sichern. Einerseits ist der Krieg zur ultimativen Rechtfertigung für drängende innenpolitische Probleme geworden (von denen die meisten durch den Krieg selbst verursacht wurden) und zur bequemen Ablenkung für die Bevölkerung. Die meisten der wirtschaftlichen und anderen Probleme werden auf westliche Sanktionen und notwendige Kürzungen „für die Front“ geschoben. Solange der Krieg andauert, muss sich Putin nicht mit innenpolitischen Unruhen auseinandersetzen, sondern kann kritische Meinungen unterdrücken, indem er die „Kriegskarte“ spielt.
Andererseits sieht Putin den Krieg als Mittel, um die zunehmend desillusionierten Eliten in Schach zu halten. Da nur wenige Personen in diesen Kreisen wirklich verstehen, warum der Krieg begonnen wurde, und noch weniger davon profitieren, kann diese Gruppe von Menschen (mit wenigen Ausnahmen) potenziell zu einem Problem für den Kreml werden. Zwar haben viele das Land verlassen, aber denjenigen, die geblieben sind, „verkauft“ Putin die Fortsetzung des Krieges als seine und damit ihre eigene Garantie des Machterhalts. Ohne ihn wäre ihre Position höchstwahrscheinlich gefährdet.
Und obwohl diese Strategie vielleicht nicht bei allen aufgeht, scheinen die meisten in Putins Zirkel angesichts der Ungewissheit, die nach seinem Abgang droht, bereit zu sein, den Teufel zu akzeptieren, den sie kennen, auch wenn sie ihn hassen.
Der Weg zum Frieden in der Ukraine: Die Serie #Friedensfragen
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In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen. Alle Artikel finden sich auch auf unserer Homepage unter www.fr.de/friedensfragen FR
Ein Ende des Ukraine-Kriegs birgt für Putin persönliche Risiken
Putins Verhalten scheint also die jüngsten Forschungsergebnisse zu bestätigen, die zeigen, dass für autokratische Führer die Risiken, die mit einem Krieg verbunden sind, geringer sind als die Risiken eines anschließenden Friedens. Insbesondere wenn sie glauben, dass ein Kriegsende mit persönlichen Nachteilen für sie verbunden ist, haben Autokraten starke Anreize, den Krieg zu verlängern, selbst wenn sie ihn nicht gewinnen können. Da mit der Anklage durch den Internationalen Gerichtshof für Putin zum ersten Mal auch konkrete persönliche Risiken bestehen, ist es unwahrscheinlich, dass er seine Fehleinschätzung zugibt und friedlich zurücktritt.

Diese Umstände haben jedoch nicht zwangsläufig zur Folge, dass Putin auf Risiko und Eskalation setzen wird, um seine ursprünglichen Ziele der kompletten „Demilitarisierung und Denazifizierung“ der Ukraine zu erreichen. Angesichts der fortschreitenden „Normalisierung des Krieges“ in der russischen Gesellschaft wird Putin höchstwahrscheinlich versuchen, den Krieg auf unabsehbare Zeit zu verlängern und ihn dann zusammen mit anderen Problemen seinem Nachfolger zu überlassen, so wie Leonid Breschnew den Krieg in Afghanistan letztlich an Mikhail Gorbatschow weitergegeben hat.
Putin hat mehr Interesse an einem katastrophalen Krieg als an einer Art Frieden
Auch wenn Putin die Eroberung der Ukraine als seine persönliche Mission ansieht, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er diesen Krieg zu Ende führen wird. Beunruhigend ist jedoch, dass derjenige, der Putins Nachfolge antreten wird, denselben Weg einschlagen und die Fortsetzung des Krieges als Mittel zur Ablenkung von den Problemen nutzen könnte, die er von seinem Vorgänger geerbt hat.
Kurz gesagt, Putin hat viel mehr Interesse daran, einen potenziell für ihn katastrophalen Krieg fortzusetzen, als sich auf eine Art Frieden einzulassen. Der Krieg ist für ihn zu einem unersetzlichen Instrument geworden, um den Dissens in der Bevölkerung zu unterdrücken und die Gefolgschaft der Eliten zu sichern. Es ist also davon auszugehen, dass Putin sogar bereit wäre, eine weitere militärische Niederlage in Kauf zu nehmen, statt das Risiko eines Friedens einzugehen, der ihn mit Sicherheit seine Macht kosten würde.