Journalismus in der Pandemie: Wie wir über Corona berichten – und warum

Woher beziehen wir unsere Informationen über Corona? Nach welchen Kriterien beurteilen wir, ob Quellen seriös sind? Die FR hat Leserinnen und Leser zum Dialog eingeladen und beantwortet die wichtigsten Fragen zur Berichterstattung über Corona – darunter auch, warum Bhakdi und Wodarg sich für uns als Gesprächspartner diskreditiert haben.
Nie in all meinen Jahren als Journalistin sah ich mich mit so vielen Mitteilungen konfrontiert, schon gar nicht zu einem einzigen Thema. Nie fiel es mir so schwer, zu entscheiden, was „ins Blatt kommt“ und – ja, zuweilen auch das: den Überblick zu behalten. Ich arbeite für die Frankfurter Rundschau im Ressort Wissenschaft. Seit Beginn der Corona-Pandemie kommt jeden Tag eine Flut von Nachrichten über Studien aus aller Welt in meinen Postfächern an. Sie stammen von Forschungsinstituten und Universitäten, Wissenschaftsdiensten und Fachmagazinen, die ich abonniert habe; Tendenz immer noch steigend.

Angesichts dieser Fülle an Informationen gilt es, immer wieder aufs Neue eine Auswahl zu treffen. Meine Aufgabe sehe ich als Mittlerin zwischen der Welt der Wissenschaft und unseren Leserinnen und Lesern an. Als Quellen gebe ich renommierten Einrichtungen wie den Max-Planck-Instituten, dem Helmholtz-Zentrum oder den großen Universitäten im Zweifel den Vorrang vor Forschungsstätten, die ich weniger gut einordnen kann. Die Menge bleibt trotzdem gewaltig.
Der Druck durch die Pandemie hat Forschung im Zeitraffer in Gang gesetzt. Was früher Jahre oder Jahrzehnte dauerte, geschieht nun binnen weniger Monate – und das vor den Augen der Öffentlichkeit. Diese macht Bekanntschaft mit Begriffen wie R-Faktor und Inzidenz, deren Aussagekraft schwer einzuordnen ist. Vor allem aber wird sie Zeuge von Vorgängen, wie sie in der Wissenschaft normal, für Laien jedoch neu sind, da sie sich üblicherweise in einem mehr oder weniger geschlossenen Zirkel abspielen. So kann alle Welt verfolgen, wie Theorien aufgestellt und unter Umständen später wieder verworfen werden.
Das ist nichts Ungewöhnliches. So funktioniert Forschung – nur hat es, salopp formuliert, vorher kaum einer mitgekriegt. Und es wäre auch nicht sonderlich aufgefallen, weil der Erkenntnisgewinn eben normalerweise viel langsamer voranschreitet. Bei Corona vollzieht er sich für die Verhältnisse der Wissenschaft mit Lichtgeschwindigkeit. Man muss es sich einmal vergegenwärtigen: Noch zu Jahresbeginn hatten wir es mit einem völlig neuen Erreger zu tun, über den so gut wie nichts bekannt war.

Ging man zunächst davon aus, dass Sars-CoV-2 hauptsächlich über Tröpfchen weitergegeben wird, so weiß man heute, dass die kleineren, länger in der Luft schwebenden Aerosole eine mindestens genauso große Rolle spielen. Die anfangs vom Robert Koch-Institut nicht empfohlenen Masken haben sich doch als Schutz bewährt und sind heute eines der wichtigsten Instrumente, um die Pandemie einzudämmen. Widersprüchliche Studienergebnisse gab es auch dazu, ob Blutdruckmedikamente aus der Gruppe der ACE-Hemmer, die weltweit von Millionen Menschen geschluckt werden, das Risiko eines schweren Verlaufs von Covid-19 erhöhen oder vielleicht sogar senken.
Das Veröffentlichen von Arbeiten auf Preprint-Servern trägt dazu bei, dass vieles bereits zur Nachricht wird, bevor es andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprüft haben. Tausende Studien zum Coronavirus wurden auf diese Weise vor der Publikation in einem Fachmagazin zugänglich. Die Bioethikerin Katrina Bramstedt warnte jüngst im „Journal of Medical Ethics“ vor potenziell minderwertiger Qualität als Folge des Drucks und der großen Eile.
Und wie in vielen Lebensbereichen, so ist man sich auch in der Wissenschaft keineswegs immer einig. Auch das spielt sich coram publico ab, wenn im Fernsehen Experte A dieses und am nächsten Abend Expertin B jenes sagt. Hinzu kommt, dass vor allem in der Wahrnehmung von außen die Trennschärfe zwischen Wissenschaft und Politik in der Coronakrise verloren gegangen ist. Das alles bewirkt Verunsicherung und bereitet Unbehagen, weil es uns alle betrifft und potenziell bedroht.
Zurück zur Berichterstattung in der FR: Mehrfach haben Leserinnen und Leser angeregt, auch „kritische Stimmen“ zu Wort kommen zu lassen, die von den „etablierten Medien“ ignoriert würden. An vorderster Stelle werden dabei immer wieder zwei Namen genannt: Sucharit Bhakdi, emeritierter Professor für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Universität Mainz, und der Lungenarzt Wolfgang Wodarg, pensionierter Leiter des Gesundheitsamtes Flensburg und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD. Beide stellen die Gefährlichkeit des neuen Coronavirus in Frage und sehen die von der Politik angeordneten drastischen Maßnahmen als überzogen an. Tatsächlich finden Bhakdi und Wodarg mit ihren Argumenten in den meisten Zeitungen, den großen Magazinen und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kein Gehör. Ich vermag nicht für die Kolleginnen und Kollegen zu sprechen, kann aber erklären, warum Bhakdi, Wodarg und die anderen aus dem Kreis der „Corona-Kritiker“ in der FR bislang nicht vorkamen. Das hat zuallererst einen einfachen Grund: Die Basis meiner Artikel über das Coronavirus sind in den meisten Fällen Forschungsergebnisse: Mir ist keine wissenschaftliche Arbeit über Sars-CoV-2 bekannt, an der Sucharit Bhakdi oder Wolfgang Wodarg mitgewirkt hätten.
Und doch treten sie mit dem Gestus auf, es besser zu wissen. Besser als die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die weltweit zum Coronavirus forschen. Kann das sein? Sollten sie wirklich über Erkenntnisse verfügen, die anderen verwehrt blieben? Das ist unrealistisch. Warum präsentieren sie ihr Wissen nicht in einer Fachzeitschrift, wie es üblich ist? Christian Drosten zum Beispiel, der berühmt gewordene Virologe von der Berliner Charité, hat zahlreiche wissenschaftliche Artikel zu Coronaviren veröffentlicht, die sein Spezialgebiet sind. Er gilt weltweit als einer der führenden Experten.

Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg verbreiten ihre Ansichten vor allem in Youtube-Videos. Es ist nicht alles falsch, was sie behaupten. Aber während andere sich schwertun, geben sie einfache, oft verkürzte Antworten, werfen mit raunendem Unterton Fragen auf und säen Zweifel an der Seriosität und den Absichten der anderen. Damit leisten sie – ob gewollt oder ungewollt – Verschwörungstheorien Vorschub.
Bhakdi und Wodarg haben sich für die FR aber auch deshalb als Gesprächspartner diskreditiert, weil sie in bestimmten „alternativen Medien“ auftreten und Leuten Interviews geben, die Verschwörungsmythen verbreiten. So ist Wolfgang Wodarg unter anderem im Gespräch mit der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Herman zu sehen, die wegen rechtspopulistischer Aussagen in Ungnade gefallen ist. Titel des Videos: „Krieg gegen die Bürger: Coronavirus ein Riesenfake?“. Sucharit Bhakdi tauscht sich mit dem Blogger Ken Jebsen aus, der die Plattform KenFM betreibt und der unter anderem das Video „Gates kapert Deutschland!“ ins Netz gestellt hat. Im Online-Magazin „Rubikon“ ist ein Exklusivabdruck von Bhakdis Buch „Corona: Fehlalarm?“ zu lesen, das der Mikrobiologe gemeinsam mit seiner Frau Karina Reiß geschrieben hat. „Rubikon“ ist eine Art Leitmedium der Corona-Verschwörungsszene. Es bezeichnet sich selbst als „Magazin für die kritische Masse“, das über das berichtet, „was in den Massenmedien nicht zu finden ist“.
Bhakdi und seine Frau schreiben vom „Gespenst der Diktatur“, von einer „mediengesteuerten Massenhysterie“ und davon, dass man sich an die Zeit vor 90 Jahren erinnert fühle. Bei aller berechtigten Kritik, die man am Agieren der Politik in der Corona-Krise haben kann, finde ich Bezüge zum aufkommenden Nationalsozialismus absurd und verwerflich, da sie diese schlimmste Epoche der deutschen Geschichte verharmlosen. Im Kapitel mit der Überschrift „Das Medien-Versagen“, bei dem es um vermeintlichen „Systemjournalismus“ und „Meinungszensur“ in Deutschland geht, werden der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die etablierte Presse als „hörige Sprachrohre“ der Regierung bezeichnet. Die Vorstellung, positive Nachrichten über das Virus auf Druck der Politik nicht zu bringen, erscheint mir geradezu aberwitzig.
Ärgerlich: Sollten die Maßnahmen greifen und sich die Pandemie nicht so schlimm entwickeln wie befürchtet, ist anzunehmen, dass Bhakdi und Co. für sich in Anspruch nehmen werden, es schon immer gewusst zu haben, dass das Virus harmloser ist als vom „Mainstream“ behauptet.

Ich kann Corona nicht leicht nehmen. Trotz der genannten Holprigkeiten haben wir in den vergangenen Monaten enorm viel über das Virus gelernt. Das hat die Möglichkeiten der Behandlung verbessert. Es hat sich aber auch gezeigt, was der Erreger im Körper anrichten kann, nicht nur in der Lunge, sondern auch in den Gefäßen, dem Herzen und anderen Organen. Über die Langzeitfolgen weiß man bislang nur wenig. Der individuelle Verlauf ist unberechenbar, weil er nicht nur von persönlichen Risikofaktoren abhängt, sondern auch von der Virenmenge, der jemand bei der Ansteckung ausgesetzt war. Selbst wenn es einen nicht schwer erwischt, kann es Monate dauern, bis man wieder richtig auf dem Damm ist. Wenn darauf hingewiesen wird, dass die meisten Infektionen mild oder moderat verlaufen, heißt das im Grunde nur: Diese Menschen mussten nicht in eine Klinik. Aber weiß man, wie es ihnen wirklich ergangen ist? Deshalb finde ich es falsch, vor allem auf die Sterberate zu blicken. Als verfehlt sehe ich auch den immer wieder bemühten Vergleich mit der Grippe an, die ich überdies für eine unterschätzte Krankheit halte – gegen die man sich aber impfen lassen kann. Das Coronavirus hingegen ist ein neuer Erreger, gegen den es weder Impfung noch eine Immunität in der Bevölkerung gibt.
Wir wissen vieles noch nicht. Die Masse an Nachrichten aus der Forschung mitsamt allen Kehrtwendungen und Widersprüchen ist anstrengend, auch für mich als Journalistin. Ich weiß, dass die Wissenschaft sich immer nur der Wahrheit annähern kann. Aber unter all den Arbeiten zu Corona, die ich seit Beginn der Pandemie zu Gesicht bekommen habe, war nicht eine, die dem Virus Harmlosigkeit bescheinigt hätte. Leider.