„Wir müssen uns nicht anpassen“

Dan Balz, der Chefreporter der „Washington Post“, über 50 Jahre Watergate-Skandal, die USA heute und die unveränderlichen Werte des guten Journalismus. Im Interview mit Sebastian Moll.
In der Nacht des 17. Juni 1972 werden fünf Männer beim Einbruch in das Hauptquartier der Demokratischen Partei im Watergate-Gebäude in Washington festgenommen. Die ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter haben Kameras, Abhörgeräte und Mikrofone dabei. Ihre Verbindungen zum „Komitee für die Wiederwahl des Präsidenten“ Richard Nixon werden von den „Washington Post“-Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward nach Monaten aufgedeckt. Das Ganze weitet sich zum innenpolitischen Watergate-Skandal aus, der im August 1974 mit dem Rücktritt Nixons endet.
Mr. Balz, wie haben Sie als junger Journalist die Watergate-Enthüllungen erlebt?
Ich war gerade mit der Uni fertig und habe beim „Philadelphia Inquirer“ gearbeitet. Natürlich haben wir das gespannt verfolgt.
Haben die Enthüllungen und die Auswirkungen, die sie hatten, Sie motiviert? Hat Sie das in dem Glauben bestärkt, den richtigen Beruf gewählt zu haben?
Ehrlich gesagt, habe ich vorher schon an diesen Beruf geglaubt. Ich hatte diesen Beruf gewählt, weil ich die Welt verändern wollte. Ich habe Journalismus immer als einen Dienst an der Öffentlichkeit begriffen. Wahrscheinlich hatten Woodward und Bernstein eine größere Auswirkung auf diejenigen, die sich noch überlegt haben, ob sie Journalisten werden sollen. Ich hatte mich ja schon entschieden.
Wie wurde der investigative Durchbruch damals in der Branche aufgenommen?

Wir haben alle gesehen, welche Kraft der Journalismus entfalten kann, wenn es darum geht, die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen. Das war aufregend. Vor allem aber hat uns ihr Mut inspiriert. Sie haben ja ihre Karriere und ihren Ruf aufs Spiel gesetzt und haben sich als junge Männer mit dem Weißen Haus angelegt. Das war beeindruckend.
Woodward und Bernstein waren ja lange Zeit die Einzigen, die überhaupt darüber berichteten.
Ja, Bob und Carl waren die Einzigen, die sich die Arbeit gemacht haben, und sie haben sich lange sehr einsam gefühlt. Es hat ja von Juni bis Oktober gedauert, bevor sich Walter Cronkite, der Nachrichtensprecher des Fernsehnetzwerkes CBS, der Sache angenommen hat. Erst dann hat die breite US-amerikanische Öffentlichkeit die Augen aufgemacht. Bis dahin war die „Post“ ganz alleine. Das war ungeheuer mutig damals, natürlich auch vom Chefredakteur Howard Simons und von der Verlegerin Katharine Graham.
Als dann die „New York Times“ und die „Los Angeles Times“ auf die Geschichte eingestiegen sind, ist die „Post“ bei der Berichterstattung eine Zeit lang sogar ins Hintertreffen geraten.

Das war in der Tat so, aber das war insgesamt ein gesunder Prozess. In diesem Fall hat der journalistische Wettbewerb die Enthüllung massiver Regierungskorruption beschleunigt.
Sie kamen 1978 zur „Post“; das war der Gipfel der Macht der Zeitungen und der Bedeutung des investigativen Journalismus. Hat das Selbstbewusstsein des klassischen Journalismus seither sehr gelitten?
Nein, das erlebe ich gar nicht so. Wir haben heute noch immer genauso das Gefühl, wichtige Arbeit zu leisten, wie damals. Wir haben noch immer eine gut finanzierte Abteilung für investigativen Journalismus, die wichtige Arbeit leistet. Ich denke, man hat bei uns, aber auch bei Zeitungen wie der „Times“, während der Trump-Regierung einen unverrückbaren Willen gesehen, alles aufzudecken, was es aufzudecken gibt. Und wir waren dabei ja auch durchaus erfolgreich. Vieles, was beispielsweise im Mueller-Report herauskam, bestätigte all die Dinge, die wir berichtet hatten. Und vieles, was jetzt in der Untersuchungskommission zum 6. Januar zutage tritt, wurde auch von unseren Reportern aufgedeckt.
Nach Watergate
Der Skandal um die gescheiterte Abhöraktion während der Kampagne zur Wiederwahl des republikanischen Präsidenten Richard Nixon war der Todesstoß für das Vertrauen der breiten US-Öffentlichkeit in die Politik. Beginnend mit dem durch eine Verschwörung staatlicher Akteure initiierten Attentat 1963 auf Präsident John F. Kennedy über das politische und mediale Desaster des Vietnamkrieges sowie die Ermordung von Hoffnungsträgern wie Malcolm X (1965), Martin Luther King Jr. und Robert Kennedy (beide 1968) war dann Nixons maßlose Korruption die eine Schweinerei zu viel für das fragil gewordene Vertrauen der USA in ihre Mächtigen.
Die Aufdeckung des Watergate-Skandals wurde von den journalistischen Protagonisten Carl Bernstein und Bob Woodward 1974 zu einem Bestseller mit dem Titel „All the President’s Men“ (deutsch: „Die Watergate-Affäre“) gemacht. Auf Empfehlung von Robert Redford wurde es aber keine Nacherzählung von Nixons Machenschaften, sondern eine Hintergrundgeschichte darüber, wie Woodward und Bernstein (im Doppelpack „Woodstein“ gerufen) den Skandal aufdeckten. Damit ist der Bestseller auch heute noch das beste journalistische Lehrbuch unserer Zeit.
Alan J. Pakula machte 1976 aus „All the President’s Men“ den vierfach Oscar-prämierten gleichnamigen Film (deutsch: „Die Unbestechlichen“) mit Robert Redford und Dustin Hoffman in den Hauptrollen. Zusammen mit dem überragenden 1971er Streifen „Klute“ (mit Jane Fonda und Donald Sutherland) und dem abgrundtief schlechten „The Parallax View“ (deutsch: „Zeuge einer Verschwörung“, mit Warren Beatty), ging der Watergate-Film in die Kinogeschichte als Pakulas „Paranoia-Trilogie“ ein. Für viele Medienschaffende ist das wiederholte Ansehen der „Unbestechlichen“ eine Labsal im frustrierenden Alltag. Und für alle Menschen ist es der filmische Beweis, dass Durchforsten von Karteikarten irre spannend sein kann. rut
Trotz allem hat die investigative Arbeit in den USA nicht mehr die Konsequenzen von damals. Nixon ist für Dinge zurückgetreten, die im Vergleich zu Trumps mutmaßlichem Verrat lächerlich waren. Frustriert Sie das nicht?
Wir können nur tun, was wir tun können, das heißt, die Fakten aufzudecken. Und natürlich hat sich die politische Landschaft dramatisch gewandelt. Wir befinden uns in einer Zeit von stammesähnlicher Politik und in einer Zeit, in der die gesamte Republikanische Partei in der Hand einer Person liegt. Das Impeachment-Verfahren ist deshalb nicht mehr das Werkzeug, als das es sich unsere Gründerväter vorgestellt haben. Aber das mindert nicht unseren Willen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Alles andere liegt nicht in unserer Hand. Am Ende liegt es jetzt in der Hand des Justizministeriums und der Wähler.
Die Medienlandschaft in den USA ist heute extrem fragmentiert, ein großer Teil der Öffentlichkeit ist – anders als 1972 – gegenüber der Wahrheit und den Fakten immun. Ist das nicht bitter für Sie?
Ganz sicher ist das frustrierend und bedenklich. Als Walter Cronkite vom Watergate-Skandal in den Abendnachrichten berichtete, war das die etablierte Wahrheit, das hat niemand angezweifelt. Heute zweifelt jeder alles an, die Menschen suchen sich nur noch die Wahrheiten heraus, die ihre Weltsicht bestätigen. Es gibt heute kaum mehr eine allgemein geteilte Version dessen, was in der Welt vor sich geht. Das ist ein riesiges Problem.
Ein riesiges Problem für die Demokratie?

Natürlich. Es ist schwierig für eine Demokratie zu funktionieren, wenn wir nicht mehr miteinander reden können und uns über die simpelsten Fakten nicht mehr verständigen können.
Wie zum Beispiel auf die Tatsache, dass Joe Biden zum Präsidenten gewählt wurde.
In der Tat. Aber wir können eben nur tun, was wir tun können, und uns gegen die Desinformation stemmen, so gut wir können. Es gibt Leute, die behaupten, die US-amerikanische Gesellschaft sei heute so sehr gespalten, dass ein Bürgerkrieg bevorsteht, insbesondere wenn das Oberste Bundesgericht in diesem Sommer das Grundrecht auf Abtreibung abschafft.
Ich weiß nicht, ob man gleich von einem Bürgerkrieg sprechen muss. Aber es gibt tatsächlich sehr viele Dinge, von der Abtreibung und den Waffengesetzen bis hin zur Wirtschaft, die uns trennen, und sehr wenig, was uns zusammenbringt.
Wie wird innerhalb der „Washington Post“ darüber gesprochen, wie man sich dieser Lage anpassen kann?
Ich glaube nicht, dass wir uns anpassen müssen. Im Gegenteil, wir müssen uns mit noch größerer Überzeugung der Aufdeckung der Wahrheit widmen. Wir nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Lügen von Donald Trump zu widerlegen.

Gerade Donald Trump und die US-amerikanische Rechte versuchen, die „Post“ zu diskreditieren, nachdem Jeff Bezos sie 2013 gekauft hat. Hat sich in der Arbeitsweise der Zeitung irgendetwas geändert, seit Bezos der Besitzer ist?
Nein, hat es nicht. Er hat uns dabei geholfen zu expandieren. Wir haben viel mehr Reporter als vorher, wir sind technisch stärker aufgestellt. In das tägliche journalistische Geschäft mischt er sich nicht ein. Er hat unsere Werte voll akzeptiert. Er finanziert und unterstützt guten Journalismus.
Um noch einmal auf Watergate zurückzukommen: Sie haben über viele Jahre mit Woodward und Bernstein zusammengearbeitet. Welchen Eindruck habe die beiden als Journalisten und Führungspersönlichkeiten auf Sie gemacht?
Sie personifizieren beide, was starker Journalismus ist und bedeuten kann. Sie sind unnachgiebig und unermüdlich, wenn sie an einer Geschichte arbeiten – bis zum heutigen Tag. Sie sind zutiefst skeptisch und haben einen sechsten Sinn dafür, wo eine Geschichte hinführt. Und irgendwie schafft insbesondere Woodward es auch immer wieder, die Leute dazu zu bringen, Dokumente herauszurücken. Ich muss also sagen, dass sie zu Recht Legenden sind.