Grundsicherung gefordert: „Wir müssen Kinder aus der Armut holen“

Sabina Schutter vom Verein SOS-Kinderdorf sieht viele Eltern am Rand der Erschöpfung. Die Organisation setzt sich für den Schutz Minderjähriger ein und fordert eine Grundsicherung, die mehr als nur das Überleben ermöglicht.
Frau Schutter, Sie sind als Vorstandsvorsitzende angetreten, weil Sie Kinder aus der Armut und Not holen wollen. Nicht nur in den SOS-Kinderdörfern, sondern auch durch die Mitgestaltung der geplanten Kindergrundsicherung der Bundesregierung. Wie soll diese aussehen?
Aus unserer Sicht ist es entscheidend, dass bei der Kindergrundsicherung die Kinder selbst anspruchsberechtigt sein sollen, und dass die Grundsicherung auch wirklich die Existenz sichert, also auch ihre gleichberechtigte Teilhabe etwa am kulturellen Leben ermöglicht. Und sie sollte allen Kindern in Deutschland zustehen, egal, woher sie kommen.
Sollte diese Grundsicherung für alle Kinder gleich sein?
Je höher das Elterneinkommen ist, desto weiter kann diese Grundsicherung abschmelzen. Aber aus unserer Sicht soll sie allen Kindern in Deutschland zu Gute kommen – zum Beispiel auch den Kindern, die in verschiedenen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe aufwachsen.
Offenbar bewegt sich ja im politischen Raum etwas. Sehen Sie Ihre Forderungen dort erfüllt?
Ich denke auch, dass wir politisch auf einem guten Weg sind. Die Kindergrundsicherung ist im Koalitionsvertrag verankert, Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat dazu gerade ein Eckpunktepapier vorgelegt. Bis zum Jahr 2025 soll die Leistung eingeführt werden. Was aber wohl zumindest in einem ersten Schritt nicht gelingen wird ist, dass diese Grundsicherung sich nicht nur am Existenzminimum orientieren wird. Damit können wir auf Dauer natürlich nicht zufrieden sein.
Gerade Kinder und Jugendliche haben in der Corona-Pandemie gelitten, weil Schulen und Kitas geschlossen waren, es keinen Vereinssport gab, man Freunde nicht treffen konnte. Kann die Grundsicherung da wieder etwas gut machen?
Es gibt den Bewusstseinswandel in der Gesellschaft, dass die Armut bei Kindern zunimmt und dass wir dagegen etwas tun müssen. Die Kindergrundsicherung bringt dort in der Tat einen Paradigmenwechsel. Aber klar ist auch: Die Kindergrundsicherung wird nicht jedes Problem lösen und auch nicht alle Versäumnisse aus der Pandemie wieder gut machen. Dafür ist viel mehr nötig, unter anderem die Interessen und Bedürfnisse der jungen Menschen endlich wirklich ernst zu nehmen und sie an Entscheidungsprozessen zu beteiligen.
Es geht bei Kinderarmut nicht nur um materielle Zuwendung.
Zur Person und Organisation
Sabina Schutter (46) ist seit März 2021 Vorsitzende des Vereins SOS-Kinderdorf. Zuvor war sie Professorin für Pädagogik der Kindheit an der Technischen Hochschule Rosenheim. Von 2005 bis 2010 arbeitetesie für den Bundesverband alleinerziehender Mütter und Väter in Berlin.
Der SOS-Kinderdorfverein wurde 1949 von Hermann Gmeiner in Imst in Tirol gegründet. Zwei Jahre später eröffnete das erste Haus mit dem Ziel, verwaisten und verlassenen Kindern in der Nachkriegszeit ein neues Zuhause zu geben. In Deutschland entstand das erste Kinderdorf 1959.
Heute gibt es nach eigenen Angaben weltweit knapp 600 Kinderdörfer, 700 Jugendeinrichtungen, mehr als 200 Kindergärten und knapp 200 Schulen. Die Organisation betreut zurzeit rund 1,5 Millionen Kinder und deren Angehörige.
Kinder und Jugendliche wachsen in den SOS-Kinderdörfern in einem familiären Umfeld auf, deren leibliche Eltern sich nicht um sie kümmern können. Zudem gibt es Dorfgemeinschaften für Menschen mit geistigen und seelischen Beeinträchtigungen.
In Deutschland gibt es 38 Einrichtungen mit knapp 5000 Mitarbeitenden. Der Verein erreicht nach eigenen Angaben hierzulande rund 85 000 Menschen. Weitere Informationen zu SOS-Kinderdorf und dessen Angeboten unter sos-kinderdorf.de. (pgh)
Armut hat viele Dimensionen. Neben materieller Armut sind auch Bildungsarmut und Fragen der Teilhabe am Arbeitsmarkt relevant. Wenn verschiedene Belastungen zusammenkommen, geraten Familien an den Rand der Erschöpfung. Natürlich ist die Kindergrundsicherung kein Universalmittel gegen jede Form der Armut in Deutschland. Deshalb ist es wichtig, in der Armutsbekämpfung an vielen Faktoren anzusetzen und dazu gehören auch die familienunterstützenden und offenen Angebote, wie Familienzentren und Beratungsstellen.
Kritik an der Kindergrundsicherung basiert oft auf dem Argument, die Eltern seien verantwortlich für die Versorgung, auch die materielle, ihrer Kinder. Hätten die genug, leide bei manchen Eltern vielleicht der Antrieb, selbst erwerbstätig zu sein.
Wir hören das oft, aber ich kann dieser Argumentation nicht folgen. Wir dürfen Menschen, die in Armut leben, nicht immer unter Generalverdacht stellen. Was wir in unseren SOS-Kinderdörfern erleben ist, dass viele Eltern viel zu erschöpft sind und sich ausgeschlossen fühlen, dass sie deshalb ihren Alltag nicht bewältigen. Nicht aus Trägheit, sondern wegen Überlastung.
Sie sind seit März 2021 Vorstandsvorsitzende des Vereins. Im Oktober des gleichen Jahres wurde eine Studie zu Übergriffen, auch sexuellen, in den Kinderdörfern publik. Haben Sie sich träumen lassen, dass Sie mit so etwas konfrontiert werden?
Die von Ihnen benannte Studie wurde ja von SOS-Kinderdorf bei einem unabhängigen Gutachter in Auftrag gegeben, daher waren wir natürlich nicht überrascht von der Veröffentlichung. Als jemand, der sich bereits in seinem gesamten Berufsleben mit der Kinder- und Jugendhilfe und dem Kinderschutz beschäftigt, ist mir auch klar, dass es in diesen anspruchsvollen Arbeitsbereichen auch zu Vorfällen kommen kann, Wir müssen immer damit rechnen, dass es unter Gleichaltrigen zu Gewalt kommen kann. Und leider auch von Seiten der Betreuenden, wie wir ja zur Kenntnis nehmen müssen.
Was muss geschehen, dass Übergriffe verhindert werden?
Wir haben einen Aktionsplan Kinderschutz ins Leben gerufen der unter anderem beinhaltet, dass in jedem SOS-Kinderdorf eine zusätzliche Fachkraft für den Kinder- und Betreutenschutz eingestellt werden konnte. Wir stärken die Rechte der Kinder und Betreuten, Kinderschutz ist jetzt auch direkt auf Vorstandsebene angesiedelt. Und wir haben eine unabhängige Kommission zur Aufklärung eingerichtet. Bei all diesen organisatorischen Innovationen ist uns aber auch klar: Die Basis für gelingenden Kinderschutz ist Beteiligung. Wir müssen leider davon ausgehen, dass Kinder wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge bis zu sieben Erwachsene ansprechen müssen, bis sie ernst genommen werden. Daher müssen wir dafür sorgen, dass man ihnen – und das nicht nur bei SOS – zuhört, sie ernst nimmt, nicht abwiegelt, sondern ihnen glaubt und dass dann auch etwas passiert.
Sehen Sie die Glaubwürdigkeit Ihrer Position beim Eintreten für Kinderrechte und gegen Kinderarmut durch die Übergriffe in den Kinderdörfern beschädigt?
Wir setzen uns für Kinder und Jugendliche ein, die in benachteiligten Lebenslagen leben. Seit 1955 sind mehr als 10 000 Kinder in SOS-Kinderdörfern in Deutschland groß geworden. Jeder Übergriff ist einer zu viel, das ist keine Frage. Darum setzen wir uns damit auseinander und tun alles dafür um zu verhindern, dass solche Dinge wieder geschehen. Das ist aus meiner Sicht auch kein Widerspruch zum Einsatz für Kinderrechte, denn Kinderrechte und Kinderschutz gehen Hand in Hand.
Interview: Peter Hanack