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„Wir haben es mit grassierender Chancenarmut zu tun“

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Von: Ursula Rüssmann

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Bernd Siggelkow.
Bernd Siggelkow. © epd

Bernd Siggelkow vom Hilfswerk „Die Arche“ spricht im FR-Interview über Heranwachsende ohne Perspektive, sinnlose Hilfspakete und die Chancen-App für Kinder.

Herr Siggelkow, wann ist ein Kind arm?

Mir hat ein Junge in einer unserer Archen mal gesagt: Wir sind nicht arm, wir haben nur kein Geld. Es ist also nicht das Geld allein. Materielle Armut führt oft zu tieferer emotionaler Verarmung. Wenn die Eltern keine Perspektive mehr sehen, etwa weil sie lange ohne Job sind, wenn sie sich selbst aufgeben: Dann geben sie auch ihre Kinder auf. Wir erleben, dass diese Kinder nicht mehr Kind sein können. Sie können zum Beispiel nicht mehr spielen, alles in ihrem Kopf dreht sich um Statussymbole wie Klamotten und Handys, damit sie nicht als arm auffallen. Wir erleben aber auch sogenannte Wohlstandsverwahrlosung: Zehn Prozent derer, die zu uns kommen, kommen aus gut situierten Haushalten, werden vernachlässigt und praktisch abgeschoben.

Fehlen benachteiligten Kindern auch Vorbilder?

Auf jeden Fall. Wenn Sie unsere Kinder fragen, was sie mal werden wollen, sagen viele: Superstar, Hartz-IV-Empfänger. Armut vererbt sich eben oft. Viele sagen aber auch: Arche-Mitarbeiter. Das hängt mit unserem Ansatz zusammen. Bei uns arbeiten über Jahre hinweg die gleichen Mitarbeiter:innen mit dem gleichen Kindern. So entstehen tragende Vertrauensbeziehungen.

Sie haben 1995 die erste „Arche“ für benachteiligte Kinder und Jugendliche gegründet. Was hat sich verändert?

Armut hat sich vervielfältigt, gerade in den letzten Jahren. Auch vor Corona waren schon viele abgehängt, das trifft jetzt noch viel, viel mehr, die einfach keinen Anschluss mehr finden. Wir haben es mit grassierender Chancenarmut zu tun, es fehlt im Bildungsbereich, im Sport, bei der Potenzialförderung. Mobbing und andere Auffälligkeiten haben extrem zugenommen. Dann der Krieg, die Inflation, viele Familien sind einfach völlig verzweifelt. In Deutschland dauert es inzwischen vier Generationen, um aus Kinderarmut herauszuwachsen. Das ist ein bleibender Skandal.

Was muss sich ändern?

Wir brauchen dringend ein besseres Bildungssystem, das auch Kinder mitnimmt, die nicht im Mainstream mitkommen. Und wir brauchen mehr Einrichtungen, die nicht projektbezogen arbeiten, sondern wo hilfsbedürftige Kinder feste Ansprechpartner:innen und Vertrauenspersonen haben.

Was sagen Sie zur Kindergrundsicherung, die die Familienministerin einführen will?

Immerhin erkennt man endlich, dass das Problem jedes Jahr größer wird. Mehr Geld ist auf jeden Fall nötig, und ich freue mich auch über jedes Paket. Aber es muss auch Hand und Fuß haben. Mein Negativbeispiel ist das Bildungs- und Teilhabepaket: Daraus können bedürftige Familien für jedes Kind 150 Euro im Jahr bekommen. Wofür soll das reichen? Das ist lächerlich. Außerdem müssen die Leute informiert werden, was ihnen zusteht. Das passiert heute eben nicht. Nehmen Sie den Kinderzuschlag, der wird nur von einem Drittel der Berechtigten in Anspruch genommen, weil viele nichts davon wissen.

Zu Person & Thema

Bernd Siggelkow , protestantischer Pastor, leitet den Verein „Arche – Christliches Kinder- und Jugendwerk“, den er 1995 gründete. Siggelkow stammt nach eigenen Worten aus sehr armen Verhältnissen. Er kam über die Heilsarmee zum Christentum und studierte auch an einem theologischen Seminar der Heilsarmee.

Die „Arche“ betreibt heute bundesweit 28 Einrichtungen, in denen laut Siggelkow täglich 4000 bis 10 000 benachteiligte Kinder gratis Essen bekommen und schulisch unterstützt werden; es gibt auch Freizeitangebote. Je eine „Arche“ arbeitet in Polen und der Schweiz. Der Verein zählt 360 Angestellte und ebenso viele ehrenamtlich Aktive.

Aus der christlichen Prägung des Vereins macht Siggelkow keinen Hehl, betont aber, dass man nicht missioniere. Die „Archen“ erreichten „die meisten Moslems überhaupt in Deutschland“, sagte er in einem Interview im Dezember. Der Verein steht dem Netzwerk der konservativen Deutschen Evangelischen Allianz nahe. rü Bild: epd

Das ist einer der Punkte, die Lisa Paus ändern will.

Das wäre gut. Allerdings muss das Geld auch garantiert dem Kind zugutekommen. Ich glaube zwar nicht, dass Eltern Unterstützungsgelder für ihre Kinder in Zigaretten oder Alkohol stecken. Aber eben vielleicht in die Reparatur der kaputten Waschmaschine, weil dafür sonst nichts da ist.

Was schlagen Sie vor?

Für jedes hilfsbedürftige Kind sollte der Staat monatlich 600 Euro bereitstellen. Rechnerisch 300 davon müssen ins Bildungssystem fließen, für mehr Lehrpersonal, Vertrauenspersonen, Förderung Benachteiligter etwa. Die anderen 300 Euro müssen direkt beim Kind landen. Alle haben ja Handys, ich plädiere für eine sogenannte Chancen-App, auf die die Summe geladen wird. Davon könnten die Kinder und Jugendlichen dann selbstständig bestimmte Angebote finanzieren, etwa Nachhilfe, Sportverein oder Musikunterricht.

Und die Eltern?

Auch die brauchen bessere Hilfen. Es nutzt ja nichts, wenn wir die Kinder stark machen und dann in schwache Elternhäuser zurückschicken. Auch die Eltern brauchen nachhaltige Beratung und Unterstützung. Das wurde mit der Schaffung der Jobcenter fatalerweise abgeschafft, da wechseln die Sachbearbeiter jetzt immer. Die Jobcenter beraten nicht. Sie geben nur, wenn was beantragt wurde.

Aber woher soll das Geld für all das kommen?

Es muss einfach da sein. Wir leisten uns jährlich 50 000 Schulabgänger:innen, die ohne Abschluss bleiben, und 15 000 funktionale Analphabeten. Gleichzeitig ruft die Politik jetzt wieder nach Fachkräften aus dem Ausland. Warum unterstützen wir nicht erst mal die Tausenden Kinder und Jugendlichen bei uns, die es brauchen? Alle sagen immer, Kinder seien unsere Zukunft. Aber erst mal sind sie doch unsere Gegenwart, und in die müssen wir investieren.

Interview: Ursula Rüssmann

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