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Wie Sprache Barrieren schafft - und aufbrechen kann

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Im Duden steht das „richtige“ Deutsch. Oder?
Im Duden steht das „richtige“ Deutsch. Oder? © privat

FR-Event Muss Sprache immer „richtig“ sein? Die Kulturlinguistinnen May Rostom und Britta Schneider sprechen über das Sprechen

Frau Rostom, Frau Schneider, Sie forschen beide zu Sprachpraxis. Was ist das?

Britta Schneider: In unserer europäischen Buchdruckkultur gibt es diese Vorstellung, dass eine Sprache einfach existiert, man findet sie im Wörterbuch, im Grammatikbuch und Menschen benutzen sie. Sie ist ein Werkzeug, um Informationen zu übermitteln. Aber in der Soziolinguistik und linguistischen Anthropologie betrachten wir Sprache in erster Linie als eine soziale und körperliche Praxis. Ich benutze meinen Körper, um Laute zu erzeugen, ich benutze meine Hände und mein Gesicht, um Bedeutung zu vermitteln. Diese Bedeutung entsteht in der Interaktion. Sprache ist also eine interaktive, gemeinsame Praxis der Bedeutungsgebung. Wir identifizieren uns sehr stark über unsere Art zu sprechen. Es geht also um die Schaffung von Bedeutung und um die Schaffung von Gemeinschaft.

Inwiefern identifizieren wir uns über Sprache? Darüber, dass ich die Sprache meines Heimatlandes spreche?

Schneider: Vieles, was wir über Sprache denken, ist in diese sehr nationalen Vorstellungen eingebettet – wir nennen sie „Sprachideologien“. Etwa, dass die deutsche Sprache aus Deutschland kommt, im „Duden“ steht und dass jemand deutsch ist, weil er deutsch spricht, weshalb alle Menschen in Deutschland deutsch sprechen müssen. Diese Denkweise ist typischerweise auch mit Vorstellungen von Sprachpurismus verbunden – der Idee, dass es eine falsche und eine richtige Art der Sprachverwendung gibt. Natürlich ist das sehr effizient und praktisch. Aber wie wir insbesondere in den letzten 15 Jahren beim Thema Migration gesehen haben, verschließt der Diskurs über Sprache oft Türen. Zum Beispiel dadurch, dass man nur Deutscher werden kann, wenn man einen bestimmten Test in Deutsch besteht.

May Rostom: Die Idee der Standardsprache ist sehr politisch. Meine Muttersprache ist Arabisch. Es gibt das Standardarabisch, das die Elitensprache ist, und das gesprochene Arabisch, das als Volkssprache bezeichnet wird. Die Sprache wird zur sozialen Strukturierung verwendet, die soziale Bedeutung der Sprache spielt also eine große Rolle.

Eine Standardsprache ist also nicht automatisch die „richtige Sprache“?

Schneider: Es gibt ein sehr berühmtes Zitat in unserem Bereich der Soziolinguistik. Es stammt von Max Weinreich aus den 1950er Jahren: „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine.“ In unserem Verständnis ist eine Standardsprache also ein Ergebnis historischer Prozesse, die mit Prestige verbunden sind. Aber nicht, weil sie sprachlich in irgendeiner Weise besser ist. Es ist nicht per se besser, „der Mann, der in die Kirche geht“ zu sagen, statt „der Mann, wo in die Kirche geht“. Nichts an den Wörtern selbst ist besser oder schlechter, es sind die sozialen Assoziationen, typischerweise die Klassenassoziationen, die Menschen damit verbinden. Im Grunde genommen ist eine Sprache also nur ein Dialekt, der von den entsprechenden Institutionen unterstützt wird.

Sind Sprachen damit, genau wie Nationalitäten, per se ausschließend?

Schneider: Sprache ist immer gleichzeitig ein- und ausschließend. Die Idee dahinter, eine Sprache, ein Repertoire, zu lernen, ist natürlich, jemanden einzubeziehen. Mit dem Begriff Repertoire vermeiden wir die Vorstellung, dass es feste Sprachen gibt. Natürlich gibt es elitäre Repertoires wie die Standardsprache. Das kann inkludierend sein: Jeder, der Zugang zu diesen Ressourcen hat, kann Mitglied der nationalen Gemeinschaft werden. Aber bei diesen sehr puristischen Ideologien kommen die ausgrenzenden Faktoren ins Spiel. Man kann Deutscher werden, aber nur, wenn man es schafft, die sprachlichen Praktiken so weit anzupassen, dass niemand merkt, dass man „anders“ ist. Wer immer noch einen „Akzent“ hat, gilt als „nicht wirklich deutsch“. Er bleibt ein Zeichen der Ausgrenzung.

Das scheinen ganz andere Barrieren zu sein als die Sprachbarriere, wie wir sie vielleicht aus dem Urlaub kennen.

Schneider: Vielleicht könnte man sie als die Grenzfunktionen der Sprache bezeichnen. Die können sehr subtil sein und sich auf verschiedenen Ebenen abspielen. Ein bestimmtes Wort könnte eine Person direkt nach Hessen verorten. Ein anderes deutet darauf hin, dass jemand viele Tiktok-Videos schaut. Auch das ist eine Praxis der Grenzziehung. Wenn wir sprechen, vermitteln wir also nicht nur die semantische Bedeutung der Wörter, die wir sagen, sondern wir vermitteln auch automatisch soziale Bedeutung und unsere Position in einem bestimmten kulturellen Raum.

Muss das unbedingt schlecht sein? Es gibt ja etwa das Beispiel des „Code-Switching“ aus Schwarzen US-Gemeinschaften: nämlich die eigenen Sprachpraxen je nach Umwelt zu ändern – auch um sich selbst vor Diskriminierung zu schützen.

Schneider: Ich würde nicht sagen, dass das unbedingt etwas Negatives ist. Es ist unvermeidlich, dass wir durch unsere Sprache markieren, wer wir sein wollen und mit wem wir zusammen sein wollen. Wir haben keine andere Wahl.

Rostom: Beim Code-Switching geht es zudem nicht immer um Schutz. Es kann auch Intimität vermitteln. In Interviews, die ich für meine Forschung führe, verwenden Leute zum Beispiel Wörter aus der Sprache ihrer Freunde, um zu zeigen, dass sie sich nahestehen. Das kann Zugehörigkeit, Intimität oder manchmal auch Ausgrenzung anderer zeigen. Da verhält es sich wie mit der Körpersprache.

Britta Schneider hat eine Professur für Sprachgebrauch und Migration an der Europa-Universität Viadrina. Sie untersucht, wie Menschen Sprache verwenden und was sie darüber denken. Ihr Fachgebiet ist der Diskurs über Sprachen. Bild: privat
Britta Schneider hat eine Professur für Sprachgebrauch und Migration an der Europa-Universität Viadrina. Sie untersucht, wie Menschen Sprache verwenden und was sie darüber denken. Ihr Fachgebiet ist der Diskurs über Sprachen. Bild: privat © privat

Schneider: Es wird dann problematisch, wenn man eine nationale Standardsprache als einzigen Maßstab verwendet. Das ist eine weitverbreitete Meinung, die in der Schule gelehrt wird: Es gibt nur eine richtige und gute Art, Sprache zu verwenden. Und das ist historisch gesehen die Sprache der nationalen Elite. Das Interessante daran ist, dass eine bestimmte Art zu sprechen diese Rolle erlangte, als neutral wahrgenommen zu werden. Als unmarkierte und „normale“ Sprache. Wir können das gut an der Rolle der Dialekte in Deutschland sehen. In Hessen ist es ganz normal, hessisch zu sprechen. Man spricht es in der Familie, im privaten Umgang, manchmal benutzen es Politiker, um Authentizität zu erzeugen. Aber es wird typischerweise mit der Unterschicht und mangelnder Bildung assoziiert. Diese Konstruktionen sind in ganz Europa verbreitet. Und genau hier wird es problematisch. Wir sehen auch, wie Sprachprestige mit Rassismus verwoben ist: Zweisprachigkeit ist wunderbar, wenn das Kind Französisch oder Englisch spricht, aber wenn es Arabisch oder Türkisch spricht, wird das weniger geschätzt.

Der Utopische raum

Live erleben können Sie Britta Schneider und May Rostom am Donnerstag, 23. Februar, in einer neuen Folge der Veranstaltungsreihe „Der utopische Raum im globalen Frankfurt“. Unter dem Titel „Sprache kosmopolitisch denken“ diskutieren sie über die Frage, wie Sprache sich in Zeiten von Migration und digitalem Austausch über Grenzen hinweg entwickelt und was das für hergebrachte Ideen von „richtig und falsch“ oder „Muttersprache“ bedeutet.

Vortrag und Diskussion beginnen am Donnerstag, 23. Februar, um 19 Uhr im Medico-Haus, Lindleystraße 15 in Frankfurt. Im Livestream werden sie auf dem Youtube-Kanal von Medico international übertragen. DieVeranstaltung findet teilweise auf Englisch statt, eine Übersetzung steht nicht zur Verfügung. Die Reihe „Der utopische Raum im globalen Frankfurt“ ist eine Kooperation der Stiftung Medico international, des Instituts für Sozialforschung und der Frankfurter Rundschau.

Die Abende der Reihe führen in diesem Jahr thematisch zur ersten Etappe der „Global Assembly“, die am 14. Mai 2023 aus Anlass des 175. Jahrestages der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche beginnt. Hier werden Menschen aus aller Welt zusammenkommen, die sich gegen Verletzungen der Menschenrechte und für deren Stärkung engagieren. Die Versammlung soll ein Zeichen setzen, dass Demokratie und grundlegende Rechte, um die 1848 im nationalen Rahmen gerungen wurde, heute nur noch global zu denken sind. FR

Bräuchte die Welt eine gemeinsame, globale Sprache um diese Ausgrenzungen zu bewältigen?

Rostom: Mein utopisches Ideal wäre nicht eine Sprache, die wir alle gemeinsam haben. Stattdessen wären es eine Menge verschiedener Sprachen und Praktiken. Wir sind schon in der Lage, diese verschiedenen Sprachen zu verwenden. Ich habe Leute aus Westafrika interviewt, die viel gereist sind und 15 oder 16 Sprachen sprechen. Und sie wechseln von einer Sprache zur anderen, ohne das Gefühl zu haben, dass das schwierig oder kompliziert ist. Auf diese Weise zeigen sie ihre Verbundenheit. Gleichzeitig gibt es auch eine Idee von Einheit. Wir betrachten Sprachen als eine gemeinsame Sache, als ein Sprachenlernen. Und wenn wir das als Gemeinsamkeit haben, können wir die Unterschiede und Vermischungen leichter akzeptieren. Ich denke, das wäre für mich die utopische Vision.

May Rostom ist Doktorandin an der Universität Aix-Marseille und der Europa Universität Viadrina. Für ihre Forschung befragt sie vor allem Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit in verschiedenen Ländern viele Sprachpraktiken lernen. Sie untersucht, wie sich diese Menschen an ihre Umwelten anpassen. Bild: privat
May Rostom ist Doktorandin an der Universität Aix-Marseille und der Europa Universität Viadrina. Für ihre Forschung befragt sie vor allem Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit in verschiedenen Ländern viele Sprachpraktiken lernen. Sie untersucht, wie sich diese Menschen an ihre Umwelten anpassen. Bild: privat © Privat

Schneider: Mir gefällt das sehr. Die Idee sollte nicht sein, eine Standardsprache zu haben, in der wir sprachlichen Purismus reproduzieren. Es ist natürlich sehr wahrscheinlich, dass die Rolle von Englisch noch dominanter werden wird. Aber eine kosmopolitische Betrachtungsweise der Sprache wäre das, was May beschrieben hat. Dass wir aufhören, all diese Ängste zu haben, eine Sprache falsch zu benutzen, und sie stattdessen als etwas behandeln, das wir miteinander tun. Bis zu einem gewissen Grad ist dies bereits mit Englisch geschehen. Wenn ich auf Englisch Texte schreibe, dann wollen nur die Deutschen, dass mein Text von einem Muttersprachler korrigiert wird. Wohingegen Menschen aus dem englischsprachigen Raum sehr daran gewöhnt sind, dass die Sprache unterschiedlich benutzt werden kann.

Gibt es schon Beispiele für diese Version der sprachlichen Utopie?

Schneider: Während meiner Forschung in Belize habe ich Menschen kennengelernt die Creole sprechen, eine Mischung aus afrikanischen Sprachen und Englisch. Dort gibt es eine sehr starke Anti-Standard-Ideologie der Sprache. Die Menschen lehnen es ab, dass ihre Sprache standardisiert wird, und wollen sie auch nicht verschriftlichen. Der Kerngedanke ihrer Sprachkultur ist, dass sich die Sprache ständig verändert und dass alle die Sprache ein wenig anders verwenden.

Nochmal kurz zurück zur Standardsprache. In der Europäischen Union gab es den Versuch, Esperanto als universelle Sprache einzuführen. Was halten Sie davon?

Rostom: Ich bin keine Expertin für Esperanto. Aber da es nicht mit einer Praxis verbunden ist, bin ich mir nicht sicher, wie lebendig diese Sprache ist.

Schneider: Die Esperanto-Leute haben sehr utopische Ideen und glauben fest daran, dass der Weltfrieden mit Esperanto leichter zu erreichen wäre. Es gibt sogar eine Gemeinschaft von Esperanto-Sprechern und ein paar Kinder, die es als erste Sprache lernen. Aber ich denke, der Fall dieser Sprache illustriert sehr schön, dass es bei der Sprache stark um soziale Zugehörigkeit und Identität geht. Und genau deshalb funktioniert sie auch nicht. Es gibt keine prestigeträchtige Esperanto-Gemeinschaft, zu der viele Menschen gehören wollen. Auf der anderen Seite möchte die Mehrheit der Menschen zu denjenigen gehören, die Englisch sprechen. Denn dann wird man als gebildet wahrgenommen.

Und wie ist die Wahrnehmung, wenn Menschen Deutsch lernen?

Schneider: In der deutschen Gesellschaft haben viele Menschen, die Deutsch lernen, eine instrumentelle Sicht auf die Sprache: Ich muss sie für meinen Job, meinen Pass, meine Staatsbürgerschaft lernen. Das sagt uns etwas über die deutsche Migrationskultur. Die Idee ist nicht, dass man, sobald man die Sprache gelernt hat, dazugehört. Sondern man muss Deutsch lernen, sonst darf man nicht bleiben.

Rostom: Ich komme aus Syrien und lebe jetzt in Frankreich, verbringe aber viel Zeit in Berlin und treffe hier viele Menschen aus Syrien. Und für viele ist das Erlernen der deutschen Sprache eine Möglichkeit, einen Pass zu bekommen, um aus Deutschland wieder herauszukommen. Das ist sozusagen das Gegenteil von dem Wunsch, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Ich arbeite aber auch mit vielen Menschen zusammen, die eine sehr pragmatische Sicht auf die Sprache haben. Sie sind an einem Ort und müssen mit Menschen kommunizieren, also benutzen sie das Repertoire und die Klänge der Region. Es geht nicht immer nur um Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit.

In den vergangenen Jahren wurde in der Öffentlichkeit verstärkt darüber diskutiert, wie sich Sprache verändert und entwickelt. Am auffälligsten ist vielleicht, dass im Deutschen viele Menschen jetzt geschlechtergerechte Sprache verwenden. Aber es gibt natürlich auch eine große Gegenreaktion. Ist das bei einer Veränderung der Sprache immer zu erwarten?

Schneider: Um eine kurze Antwort zu geben: Ja. Menschen haben starke Schutzinstinkte in Bezug auf Sprache, aber es lohnt sich sehr, zu untersuchen, wo genau sie ihre Sprache schützen wollen. Mein Kollege Anatol Stefanowitsch hat das Buch „Eine Frage der Moral“ geschrieben, in dem es um geschlechtergerechte Sprache geht. Er hat beobachtet, dass die meisten Aufschreie über Sprachveränderungen kommen, wenn eine zuvor stigmatisierte Gruppe etwas ändern möchte. Die deutsche Sprache verändert sich im Moment sehr schnell, aber es gibt erstaunlich wenig Diskussion über Anglizismen. In den 1990er Jahren gab es eine, aber im Moment scheint niemand ein Problem darin zu sehen, dass wir „Meeting“ statt „Treffen“ sagen. Aber die Leute flippen völlig aus, wenn man „Student:innen“ sagt. Es geht nicht um das Wort. Es geht um Identität und eine politische Positionierung. In diesem Zusammenhang wird es in Zukunft immer schwieriger werden, eine Sprache zu verwenden und sie als „neutral“ zu bezeichnen. Wenn wir viele Varianten haben, kann eine bestimmte Sprechweise nicht mehr als „neutral“ wahrgenommen werden.

Sie sprachen von der schnellen Veränderungen der deutschen Sprache. Warum verändert sie sich jetzt schneller als sonst?

Schneider: Viele unserer Vorstellungen zu Sprache sind an die Erfindung der Drucktechnik geknüpft. Unsere nationalen Sprachräume hätten ohne Buchdruck, ohne phonetische Schrift nicht funktionieren können. Ich glaube, dass wir durch digitale Medien starke Veränderungen in normierten Sprachkulturen erleben werden. Es gibt schon jetzt eine Deregulierung von Sprache im Netz und neue Akteure wie Google Translate und DeepL. Diese beeinflussen, wie Menschen über Sprache nachdenken. Für uns als Kulturlinguistinnen ist das sehr aufregend, aber die Öffentlichkeit sollte sich darauf einstellen, dass es in Zukunft eine größere Sprachenvielfalt geben wird.

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