Wie lässt sich in Zeiten des Ukraine-Kriegs kritische Solidarität mit Selenskyj gestalten?

Der Westen könnte Waffenlieferungen an die Zustimmung der Ukraine zu Verhandlungen knüpfen, schlägt Bernd Janssen vor.
In einer liberalen Demokratie ist es üblich, dass aktuelle politische Probleme und Herausforderungen zwischen den demokratischen Parteien zu öffentlichen Auseinandersetzungen über die richtige Interpretation der Sachverhalte und die notwendigen politischen Antworten führen. Warum wird über den Ukraine-Krieg in Deutschland keine pluralistische Streitkultur sichtbar?
Im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist es zwar grundsätzlich richtig, dass die westlichen Demokratien Partei für die Ukraine ergreifen und die Ukraine vielfältig unterstützen. Aber welche Unterstützungsmaßnahmen sind die richtigen, welche sind problematisch oder sogar gefährlich, weil sie den schleichenden Übergang in den dritten Weltkrieg in sich bergen?
Friedensfragen zum Ukraine-Krieg: Risiko eines weltweiten Kriegs rückt näher
Zurzeit fordern die osteuropäischen Nato-Staaten den schnellen Beitritt der Ukraine in die Nato. Wenn das geschieht, stehen alle Nato-Staaten in der Pflicht, die Ukraine militärisch zu verteidigen, die Nato und Russland befänden sich umgehend im Krieg gegeneinander. Ein entsetzlicher Ausblick, denn Russland ist immer noch ein Staat mit einer umfassenden atomaren Bewaffnung.
Aber auch wenn der zügige Beitritt der Ukraine nicht erfolgt, rückt das Risiko eines weltweiten Krieges immer näher, weil sich das Rad des Wettrüstens auf beiden Seiten immer schneller dreht. Die Ukraine fordert vom Westen Kampfjets und Kriegsschiffe, Russland erhöht die Mobilmachung seiner Soldaten auf 1,5 Millionen.
Ist die Haltung einer kritischen Solidarität nicht mehr selbstverständlich? Kürzlich hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Jahr 2023 zum Jahr des Sieges im Krieg gegen Russland erklärt. Warum erklären die westlichen Politiker nicht öffentlich, dass sich die Ukraine mit Hilfe der Waffensysteme der Nato wahrscheinlich lange erfolgreich in diesem russischen Angriffskrieg verteidigen kann, aber die Annahme, den Krieg gegen die Weltmacht Russland in zwölf Monaten als Sieger beenden zu können, schlicht eine Illusion ist?
Schwierige Verhandlungsbasis im Ukraine-Krieg: Selenskyj muss Verhandlungen zustimmen
Dramatisch ist aktuell, dass Selenskyj erst mit der russischen Führung verhandeln will, wenn die Russen ihre Truppen vollständig vom ukrainischen Staatsgebiet zurückgezogen haben, auch die Krim „befreit“ ist. Diese Vorbedingung, die einer militärischen Niederlage Russlands gleichkommt, wird die russische Führung niemals erfüllen. Folglich wird dieser Krieg unbefristet weitergehen.
Ukrainische Soldat:innen und Zivilist:innen werden Tag für Tag weiter sterben – als Helden in der Wahrnehmung der ukrainischen Bevölkerung und zugleich als Bauernopfer im strategischen Kampf der Weltmächte –, auch die Zerstörung der Ukraine, ihrer Städte, ihrer Infrastruktur wird unbegrenzt weitergehen, die nächste große Fluchtwelle ist nur noch eine Frage von Wochen.
Warum sagt niemand dem ukrainischen Präsidenten, dass er mitverantwortlich wird für die weitere Zerstörung seines Landes und das kriegsbedingte Sterben vieler Menschen, wenn er Verhandlungen mit der russischen Regierung ohne Vorbedingungen verweigert? Warum fordern die westlichen Demokratien nicht den sofortigen Beginn von Waffenstillstandsverhandlungen und knüpfen ihre weiteren Waffenlieferungen an die Zustimmung der ukrainischen Regierung zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen?
Autor und Serie
Der Autor: Bernd Janssen ist promovierter Politikwissenschaftler. Er vertrat mehrere Jahrzehnte als Hochschullehrer in Hannover die Disziplinen Schulpädagogik und Politische Bildung.
Die Serie: Welche Wege führen zum Frieden? Was müssen wir hinterfragen, was angesichts von Waffengewalt nicht opfern? Fachleute geben Antworten in der FR-Serie „Friedensfragen“.
Waffenstillstand im Ukraine-Krieg wird von Woche zu Woche dringlicher
Eine Initiative der deutschen Bundesregierung, in Abstimmung mit weiteren europäischen Staaten ein Verhandlungsforum zu schaffen, auf dem ukrainische und russische Politiker:innen, moderiert von neutralen Drittstaaten, zunächst eine Vereinbarung über einen Waffenstillstand anstreben, wird von Woche zu Woche dringlicher.
Vereinzelt werden umgehende Waffenstillstandsverhandlungen von führenden Politiker:innen aus den Berliner Regierungsparteien gefordert – zum Beispiel vom Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich – , aber die Befürworter:innen solcher Verhandlungen scheinen bislang in ihrer Partei in der Minderheit zu sein. Es ist an der Zeit, dass sich die SPD und die Grünen wieder auf ihr historisch gewachsenes Profil als Friedensparteien besinnen. Es ist überfällig, jetzt die Chancen der Diplomatie vielfältig zu aktivieren, um Waffenstillstands- und langfristig Friedensverhandlungen zu ermöglichen. (Bernd Janssen)