Wie kann die Entwicklung von Frieden beginnen?
Solange Russland die Kriegshandlungen fortsetzt und die Ukraine die Ressourcen zur Verteidigung des Landes mobilisiert, wird dieser Krieg nicht enden, schreibt Hanne-Margret Birckenbach.
Aktuell ist kaum vorstellbar, dass der Krieg gegen die Ukraine friedenswirksam beendet wird. Dennoch muss dies als Aufgabe angenommen werden.
Denn seit dem Eintritt ins Atomzeitalter weiß man um die wachsende Gefahr einer Zerstörung der Lebensgrundlagen, wenn es nicht gelingt, Krieg zu vermeiden, Interessen- und Zielkonflikte konstruktiv auszutragen sowie die natürlichen Ressourcen zu schonen. Daher rührt die völkerrechtliche Verpflichtung aller Staaten zum Frieden. Sie endet nicht, wenn ein Aggressor sie verletzt.
Eine Verteidigung gegen einen Aggressor ist legitim und kann ihm auch großen Schaden zufügen. Aber Frieden entsteht dadurch nicht. Daher hat die UN-Generalversammlung die Aggression Russlands ohne Wenn und Aber verurteilt sowie zugleich einen sofortigen Waffenstillstand und die Beilegung der Streitigkeiten mit den in der UN-Charta vorgesehenen friedlichen Mitteln gefordert. Dem hat auch Deutschland wie alle anderen westlichen Staaten zugestimmt. Diese Mittel zeichnen sich dadurch aus, dass sie kombinierbar sind, eigenverantwortlich gewählt werden und Denk- und Kooperationsräume öffnen.
Erzwungen werden kann gemeinsames Denken und Kooperieren nicht. Solange Russland die Kriegshandlungen fortsetzt und die Ukraine die Ressourcen zur Verteidigung des Landes mobilisiert, wird dieser Krieg nicht enden. Die westlichen Akteure setzten darauf, dass Verhandlungsbereitschaft durch Sanktionen und Abnutzung russischer Truppen auf dem Schlachtfeld wächst. Dagegen steht jedoch die Erfahrung, dass die Aussichten auf einen nachhaltigen Friedensprozess sich mit jedem Kriegstag verschlechtern und der Aggressor sich zusätzlich brutalisiert.
Selbst dann, wenn es in Russland zu einem Machtwechsel kommt und wenn es der Ukraine gelingt, die russischen Truppen zurückzuschlagen, ist die Ukraine ein zerstörtes Land, ihre Bevölkerung traumatisiert und auf lange Sicht erschöpft. Auch die europäischen politischen Institutionen und bilateralen Beziehungen werden in diesem Krieg dauerhaft so beschädigt, dass ihre Glaubwürdigkeit als global agierende Friedensakteure weiter abnimmt.
Diese bittere Prognose ist Ausgangspunkt für alle realistischen Friedensstrategien. Sie haben nur dann eine Chance, wenn es gelingt, den auf die Kriegshandlungen verengten Diskurs zu erweitern und die Aufmerksamkeit auf friedensorientierte Praktiken zu lenken, die zur Zeit vor allem in den Vereinten Nationen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken beobachtet werden. Diese Impulse sind jetzt viel zu schwach, um den Krieg zu stoppen. Dennoch sind sie friedenspolitisch wegweisend.
Das gilt erstens für alle Ansätze, die das Bewusstsein dafür schärfen, dass auch bei den Reaktionen auf einen verbrecherischen Angriffskrieg die Verpflichtungen zu konventioneller wie nuklearer Abrüstung sowie zur ressourcenschonenden Umsetzung der globalen Entwicklungsziele beachtet werden müssen.
Es gilt zweitens für alle Bemühungen, Menschen vor Auswirkungen der Kampfhandlungen zu schützen. Die UN-koordinierte humanitäre Hilfe, die Kontrolle der Atomkraftwerke durch die Internationale Atomenergiebehörde sowie die Vereinbarungen über Getreidelieferungen wirken unmittelbar gewaltmindernd und gewaltvorbeugend. Die in der Ukraine neu entstehenden Formen sozialer Verteidigung und ziviler Konfliktbearbeitung auf kommunaler Ebene schränken Gewaltausübung ein. Auch die inhaltlichen Vorschläge, die von namhaften Persönlichkeiten und Expertengruppen für eine Verhandlungslösung gemacht wurden, haben diesen Zweck.
Wegweisend sind drittens alle Versuche, Kommunikationskanäle offenzuhalten und das Wissen darüber zu erweitern, wie konstruktive Gespräche auch zwischen Menschen aus verfeindeten Lagern möglich sind. Das gelingt nicht nur vielfach in den Vereinten Nationen und selbst im Sicherheitsrat. Es gelingt auch in zivilgesellschaftlichen Netzwerken. So schaffen es Frauen aus der Ukraine, Russland, der Schweiz und Deutschland, die sich bereits 2016 in der „Women’s Initiatives for Peace in Donbas(s) – WIPD“ vernetzt haben, auch heute noch, sich über die Kampflinien hinweg über ihre verschiedenen Wahrnehmungen der Situation und ihre Einflussmöglichkeiten auf diese zu verständigen. Ihre Arbeit ist vorbildlich für Akteur:innen aus Kultur und Wissenschaft, die sich nicht weiter in die Sanktionspolitik hineinziehen lassen wollen.
Friedensentwicklung im Krieg beginnt unspektakulär in sehr engen Grenzen. Was dabei erreichbar ist, kann man vorab nicht wissen. Die vielfältigen Impulse und Praktiken ins Gespräch zu bringen, ihre Weiterentwicklung materiell, personell und intellektuell zu unterstützen, ist das Mindeste, was aus friedenslogischer Sicht jetzt zu tun ist, um die expandierenden Teufelskreise der Gewalt zu unterbrechen.
Hanne-Margret Birckenbach ist Politikwissenschaftlerin und Friedensforscherin. Sie lehrte an der Universität Gießen. Am Freitag wurde bekannt, dass sie den diesjährigen Göttinger Friedenspreis erhält.