Krieg in der Ukraine: Wie begegnen Medien Kriegslügen?

„Fungieren Medien als Kriegstreiber? Entgegen der Friedenspflicht, vielleicht sogar unbemerkt?“, fragt Journalismus-Professorin Sabine Schiffer. Von der selbstkritischen Debatte nach dem Jugoslawienkrieg ist kaum etwas übriggeblieben.
Eine aktuelle Preisausschreibung für Journalistik-Studierende bittet um Essays zum Thema „Krieg in Europa“, und ich frage mich dabei, ob die angehenden Journalist:innen, die zu Zeiten des Jugoslawienkriegs noch nicht geboren waren, wissen, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nicht der erste Krieg im Nachkriegseuropa ist – also in den fast 80 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die sich anschließenden Fragen sind dann mindestens folgende: Macht es einen Unterschied, wenn man das weiß? Ändert das etwas an der Wahrnehmung der aktuellen Kriegslage?
Ich traue es mich kaum zu schreiben, aber in diesem grausamen Krieg in der Ukraine ist nichts anders als in allen anderen Kriegen. Sie beginnen mit Kriegslügen, es werden Kriegsverbrechen begangen und eine Kriegswirtschaft entsteht, mit zerstörter Infrastruktur, Söldnertruppen, Milizen, Vergewaltigungen, getöteten Zivilistinnen und Zivilisten. Der Schuldige für den Angriff am 24. Februar 2022, Wladimir Putin, reiht sich damit ein in die lange Liste der Kriegsverbrecher seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die fehlende Exklusivität des tragischen Leids der Menschen in der Ukraine deutet gleichzeitig darauf hin, dass die Kommunikation von „Zivilisationsbruch“ und „Zeitenwende“ der Bundesregierung mehr PR als Analyse darstellt, die mittels einer Ausnahmebehauptung unter Auslassung störender Fakten für bestimmte politische Entscheidungen wirbt. Das mag lückenhafter Analyse geschuldet sein, falscher Beratung oder Geschichtsvergessenheit, aber die Folgen werden wir alle gemeinsam tragen.
Krieg in der Ukraine: Historiker wie Münkler führen den Konflikt auf Kräfte seit dem Ersten Weltkrieg zurück
Insofern ist es das Gebot der Stunde für Historiker:innen und Medienmachende, die fehlenden Fakten in der Betrachtung zu ergänzen, die Lücken auszuleuchten – das wäre die genuine Aufgabe unserer Medien als vierter Gewalt. Nur, welche Fakten sollen das sein? Die Auswahl ist groß.
Schließlich gibt es Historiker wie Herfried Münkler, die den Konflikt um die Ukraine auf revisionistische Kräfte mindestens seit den Verträgen nach dem Ersten Weltkrieg zurückführen, oder andere, die die Entwicklung in Osteuropa seit der Orangenen Revolution 2004 einbeziehen wollen. Manche wollen sich nur auf die letzten zehn Jahre seit der Ablehnung des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU beschränken, dem folgenden Euro-Maidan mit dem umstrittenen Regierungswechsel 2014 und den damals beginnenden Kämpfen im Osten in der Ukraine. Wiederum andere – nicht zuletzt in den USA – sehen einen globaleren Zusammenhang, der geopolitische Überlegungen von Eurasien über Afghanistan bis in den Indo-Pazifik einschließt.
Zur Serie
Die Menschen in der Ukraine brauchen Frieden, aber es herrscht Krieg. Welche Wege können zum Frieden führen? Welche Rolle soll Deutschland dabei spielen?
In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen. Alle Artikel finden sich auch auf unserer Homepage unter www.fr.de/friedensfragen FR
Wie also auswählen aus dem riesigen Fundus an Fakten, die hier alle eine Rolle spielen könnten? Was genau ist relevant, um welchen Zusammenhang zu verstehen? Und wovon lenken die ausgewählten Fakten jeweils ab, um die Relevanz noch anderer Aspekte erkennen zu können?
Wie die Fragen zeigen, wirkt sich die Auswahl an Fakten, die genannt beziehungsweise ausgeblendet werden, auf die Einschätzung des Sachverhalts aus. So unterstellt der verkürzte Blick auf die letzten zehn Jahre eine Mitschuld der EU, während wiederum Fragen der Nato-Osterweiterung ausgeblendet werden oder die antidemokratischen Entwicklungen in Russland. Geht man weiter in die Geschichte zurück, wirft das andere Fragen auf. Die Ausrufung einer „Zeitenwende“ kann nur verfangen, wenn man den 24. Februar als böse Überraschung aus heiterem Himmel fokussiert.

Aber auch das gilt nur, wenn man das Jahr 1999 ausblendet, das Jahr des Kosovo-Kriegs. In Studien war nach dem Jugoslawienkrieg die Rolle der Medien untersucht worden. Eine große schwedische Studie kam zu dem Schluss, dass Medien mehrheitlich als „vierte Waffengattung“ agiert hätten. Medien als Kriegstreiber? Entgegen der Friedenspflicht, ungewollt, sogar unbemerkt? Von der selbstkritischen Mediendebatte im Jahr 2000, die etwa der Historiker Kurt Gritsch in seinen Schriften aufarbeitet, scheint sich wenig erhalten zu haben als Warnschild für schnelle Kurzschlüsse heute.
Der Generationenwechsel in den Redaktionen stellt also nicht die alleinige Herausforderung dar. Auch gegen das Vergessen wichtiger Erkenntnisse müssten Qualitätsstandards definiert werden. Als hilfreich im Aktuellen erweist sich nicht selten Diversity. Wenn Studierende oder Volontär:innen aus aller Welten Länder kommen, Russisch oder Ukrainisch sprechen, Wissen über den Balkan oder Afrika mitbringen, lässt sich von deren Perspektivenvielfalt profitieren – vielfältiges Wissen schlummert in jeder Gruppe, die Fragen aufwirft, auf die man sonst gar nicht kommt.
Wichtig ist, das Potenzial der Vielfalt zu heben und einen wertschätzenden Diskussionsraum mit diversem Meinungsspektrum zu pflegen. Nicht nur nach innen, auch nach außen, im öffentlichen Diskursraum, täten uns mehr Verhandlungsdiskurse über möglicherweise bessere Lösungswege gut.