Widerstand im Warschauer Ghetto: Sie waren Heldinnen und Helden

Vor 80 Jahren wehrten sich die Menschen im jüdischen Ghetto in Warschau dagegen, in die NS-Vernichtungslager deportiert zu werden – ein Foto steht wie kein anderes für ihre Geschichte.
Es gibt Fotos, die bleiben für die Ewigkeit: das vietnamesische Mädchen zum Beispiel, das 1972 Opfer eines Napalm-Angriffs wird, sich die Kleidung vom brennenden Leib reißt und nackt dem Fotografen entgegenläuft. Sie überlebt und berichtet später von den Gräueln des Krieges. Ein junges Opfer eines anderen Krieges wird später nicht berichten können, sein Verbleib ist ungeklärt, bis heute. Das Foto des vermutlich ermordeten Jungen aber wird um die Welt gehen, als Beweis für die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Terrors im besetzten Polen und während des Aufstandes im Warschauer Ghetto 1943, der in diesen Tagen vor 80 Jahren stattgefunden hat.
An diesem Mittwoch wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Polen mit seinem Amtskollegen Andrzej Duda und dem israelischen Staatsoberhaupt Isaac Herzog der Opfer des Aufstands gedenken. Steinmeier soll als erster deutscher Staatsgast eine Rede am Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos halten. Es ist eine Reise inmitten politischer Spannungen zwischen den beiden Nachbarn, und auch das hat noch mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun: Polen beharrt auf der Forderung, dass Deutschland für Kriegsschäden Reparationen leisten sollte. Die Bundesregierung hält das Thema für erledigt, und auch der Bundespräsident hat Warschau eine Absage erteilt.
Widerstand im Warschauer Ghetto: Bundespräsident Steinmeier nimmt am Gedenken teil
Bei der Gedenkstunde an diesem Mittwoch wird allerdings das Erinnern im Mittelpunkt stehen, an die Heldinnen und Helden des polnischen Widerstands gegen die Tyrannei der Nationalsozialisten. Das wird nach acht Jahrzehnten herausfordernder, weil es kaum noch Zeitzeug:innen gibt, die aus erster Hand berichten können. Es wird darauf ankommen, die Bilder des Grauens und die Berichte der Verstorbenen wieder aufleben zu lassen. Denn die meisten Überlebenden und Partisan:innen sind tot. Die Erinnerung an die dunkelste Zeit im deutsch-polnischen Verhältnis muss anders transportiert werden, zum Beispiel mit dem ikonischen Schwarz-Weiß-Foto, das den Jungen und andere Opfer zeigt.
Man kommt ihm nahe: Der Junge auf dem Foto trägt kurze Hosen, Kniestrümpfe, feste Schuhe. Die Hände sind erhoben, er ergibt sich vor den SS-Soldaten. Unter der Mütze zeigt sein Kindergesicht Angst, Schrecken, Trauer, Hilflosigkeit. In seinen unschuldigen Zügen wird all die Unmenschlichkeit gespiegelt, zu der die nationalsozialistischen Besatzer in der Lage waren, auch gegenüber Kindern. Das Bildnis ist erschreckend und hat auch 80 Jahre nach seinem Entstehen nichts von seiner Wirkung eingebüßt. Es ist ein Zeugnis des Grauens, das vor allem über die jüdische Bevölkerung im sogenannten Generalgouvernement hereingebrochen war, wo Heinrich Himmlers SS und der „Schlächter von Polen“, Hans Frank, in Zeiten des Zweiten Weltkrieges ihre Tyrannei installiert hatten. Nach heutigem Kenntnisstand ist das Foto im April oder Mai 1943 während des Aufstands im Warschauer Ghetto entstanden.
Bereits vier Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 hatte die Wehrmacht Warschau besetzt – die jüdische Gemeinde dort war damals die größte Europas. Schon wenig später unternahmen die Nationalsozialisten erste Versuche einer Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung, 1940 wurden die Menschen dann gezwungen, in ein geräumtes Stadtgebiet zu ziehen, das mit kilometerlangen Mauern vom Rest der Stadt abgetrennt worden war. Außen überwachten deutsche und polnische Sicherheitskräfte, innen sorgte ein von den Deutschen eingerichteter „Judenrat“ für Ordnung, zumindest für die Ordnung, wie sie von den Besatzern diktiert war.
Widerstand im Warschauer Ghetto: Auf jüdischer Seite kämpften anfänglich rund 800 Personen
Hunderttausende Menschen lebten zusammengepfercht auf engstem Raum, viele mussten ihr Leben als verarmte jüdische Arbeitskräfte in Betrieben der Stadt fristen, oft unter den Schikanen der SS, aber auch der teilweise antisemitisch eingestellten Bevölkerung. Das Ghetto war isoliert, aber nicht vollständig abgeriegelt. Aus der Not unzureichender Versorgung mit Lebensmitteln und im Laufe der Zeit unhaltbarer hygienischer Zustände entwickelte sich ein reger Schmuggelverkehr, auch mit Waffen. Es war die Grundlage für die Entstehung einer effektiven Widerstandsbewegung, die trotz der Kontrollen durch die Besatzer wuchs und sich traute, offen gegen die Gewalttäter vorzugehen.
Im dritten Kriegsjahr begannen die Nazis im Rahmen ihrer „Aktion Reinhardt“ mit den Vorbereitungen für eine großflächige Mordaktion an den mehr als zwei Millionen Jüdinnen und Juden im besetzten Polen. Auch das Warschauer Ghetto sollte aufgelöst werden, täglich wurden Tausende in Vernichtungslager deportiert, über Gaskammern und Massenerschießungen in Treblinka verbreiteten sich erste Gerüchte. Die Nervosität nahm zu, viele Widerständler:innen hatten bereits Freunde und Familienmitglieder verloren. SS-Leute, die ins Ghetto vorstießen, wurden angegriffen. Am 19. April 1943 umstellten die Besatzer unter dem Kommando von SS-Gruppenführer Jürgen Stroop das Gebiet und marschierten ein. Die Menschen dort beschossen sie, Molotow-Cocktails flogen auf die gepanzerten Fahrzeuge. Der Aufstand brach sich Bahn.
Bis Mitte Mai dauerten die Straßen- und Häuserscharmützel an, auf jüdischer Seite kämpften anfänglich rund 800 Personen, die Deutschen setzten etwa 2000 Soldaten und Polizisten ein. Der 16. Mai gilt als Endpunkt dieses erstaunlichen Aufstandes gegen die nationalsozialistische Übermacht, als Stroop am Abend des Tages die Große Synagoge der Stadt sprengen ließ. Im Triumph telegrafierte der brutale Nationalsozialist, der 1951 in polnischer Haft hingerichtet wurde, an seinen Vorgesetzten, SS-Obergruppenführer Friedrich-Wilhelm Krüger: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr.“ Tausende jüdische Menschen waren gefallen, erschossen oder deportiert worden.
Darunter womöglich auch der kleine Junge auf dem Foto. Seine Identität konnte nie geklärt werden. Zwar hielten sich in der Nachkriegszeit mehrere Personen für den Jungen, auch gingen Hinweise auf andere ein, allerdings tappen die Historiker:innen bis heute im Dunkeln, was aus dem Kind geworden ist. Fest steht nur: Als Darstellung ist die Aufnahme in unzähligen Büchern und Filmen zitiert worden.

Aufstand in Warschau: Eine Inspiration für den Widerstand
Bereits 1945, wenige Monate nach dem Ende des Krieges, sprach US-Chefankläger Robert H. Jackson im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher über Gewalt an Kindern und Frauen und berief sich auf das schwarz-weiße Foto. Auch im Prozess gegen Adolf Eichmann, dem Schlächter hinter der Maske des Biedermannes, kam das Motiv 1961 zur Sprache.
Nicht zuletzt der SS-Täter Stroop hatte in grausamer deutscher Gründlichkeit dies ermöglicht. Minutiös hatte der Kriegsverbrecher in Berichten an seinen Vorgesetzten Krüger über die Niederschlagung des Aufstands berichtet, das Foto ist Teil seiner als „Stroop-Bericht“ bekanntgewordenen Dokumentationen.
Kaum bekannt ist, was aus den Partisaninnen und Partisanen geworden ist, die die Niederschlagung durch die SS überlebt haben. Nur wenige konnten nach dem Krieg in Büchern, Vorträgen und im Fernsehen von dem Aufstand erzählen, darunter der 2009 verstorbene Marek Edelman, der 1943 mehrere Widerstandsgruppen kommandierte. Es bleibt die Erinnerung an mutige Männer und Frauen, die vielen Menschen in Polen gegen Ende der deutschen Besatzung Inspiration zu ihrem Widerstand gewesen sein dürften.
Besser dokumentiert ist das „Schicksal“ der Täter. Der Soldat, der auf dem Foto hinter dem Jungen mit einer Maschinenpistole im Anschlag zu sehen ist, war SS-Rottenführer Josef Blösche. 1967, also mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto, wurde der Kriegsverbrecher in der DDR verhaftet und zwei Jahre später hingerichtet. Seine Aussagen im Prozess gerieten widersprüchlich und konnten nicht viel zur Klärung beitragen. Demnach könnte der Junge auf dem Foto gleich im Ghetto erschossen – oder in Treblinka ermordet worden sein. (Martin Benninghoff)