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Welche Rolle spielen politische Mentalitäten?

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Von: Rainer Kilb

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Putin hält Russlands Bevölkerung „in vermeintlich paternalistischer Sicherheit“. Wandgemälde nahe Moskau.
Putin hält Russlands Bevölkerung „in vermeintlich paternalistischer Sicherheit“. Wandgemälde nahe Moskau. © afp

Vielleicht könnten die UN und China gemeinsam auf Russland einwirken - weil vor allem Pekings autoritäres Politikmodell dem Moskaus ähnelt, meint der Konfliktforscher Rainer Kilb.

Augenblicklich dominieren in der heißen Kriegsphase zwischen Russland und der Ukraine Fragen, wie militärische Auf- oder Abrüstungen die Bedingungen zur Kriegsbeilegung fördern beziehungsweise. behindern könnten. Diskutiert wird auch, wie Putin ohne Gesichtsverlust aus dem Dilemma seiner völkerrechtswidrigen Invasion in der Ukraine herauskommen könnte.

Nebenbei aber spült die kriegerische Auseinandersetzung in Osteuropa und die jeweils (vermeintlich) legitimierenden Argumentationsketten im Umfeld dieses Krieges eine viel tiefer reichende Problematik an die Oberfläche. Es geht darum, dass Meinungspluralismus im Sinne liberal-demokratischer Gesellschaften für die Machthaber in autoritär-totalitären Systemen existenziell bedrohlich ist.

Insofern ist Putins Konfliktwahrnehmung im Sinne einer systemischen Bedrohung durch liberal-demokratischen Pluralismus auch rational nachvollziehbar. Und noch mehr: Natürlich ist diese Form staatsbürgerlicher Partizipationsmöglichkeiten aus seiner Sicht auch real durch „westliche Einflüsse“ geprägt. Was für uns als demokratischer Streit um das bessere Modell definiert ist, stellt für Putin eine existenzielle Bedrohung mit der Gefahr des eigenen Machtverlustes dar und erklärt seine Impulse, diesem sogar, wenn nötig, auch durch kriegerische Interventionen vorzubeugen.

Zum Kernproblem dieses mittlerweile so komplexen Konfliktes wird dadurch die Distanz zwischen zentraler Regierung einerseits und einem sich in vermeintlich paternalistischer Sicherheit ergebenden Volk andererseits. In der angespannten Kriegssituation und noch dazu im Rahmen eines paranoiden Totalitarismus als Regierungsform erscheint es kaum möglich, dass es zu russlandinternen Impulsen gegen das dortige Gewaltregime kommen könnte. Im Gegenteil, dieser ‚vertrauensvolle Paternalismus‘ wird noch dadurch stabilisiert, dass große Teile der russischen Bevölkerung den fürchterlichen Krieg nicht so hautnah erfahren müssen wie dies für die Menschen in der Ukraine der Fall ist.

Autor und SErie

Der Autor: Rainer Kilb ist Professor für Soziale Arbeit und Konfliktmanagement an der Mannheim University of Applied Sciences.

Die Serie: Welche Wege führen zum Frieden? Was müssen wir hinterfragen, was angesichts von Waffengewalt nicht opfern? Fachleute geben Antworten in der FR-Serie „Friedensfragen“.

Pluralen und liberal-demokratischen Selbstverständlichkeiten bei uns stehen in Russland für uns paranoid anmutende autoritäre Bunkermentalitäten gegenüber. Beides ist untereinander mentalitätsmäßig kaum vermittelbar, ja manchmal noch nicht einmal kommunizierbar. Der Russland-Ukraine-Krieg zeigt deshalb sehr deutlich auf, dass es letztendlich auch um den Kampf zwischen demokratischen Lebensformen und Lebensstilen, also gesellschaftlicher Mitgestaltung und möglicher Teilhabe auf der einen Seite und autoritär-paternalistischen Strukturen auf der anderen Seite geht, in denen sich das Volk auf einen Absicherungsvertrag mit wenigen Entscheidern einlässt und dafür bereit ist, deren paranoide Wahrnehmungen selbst zu adaptieren.

Insofern stehen sich zwei unterschiedliche, auch mentale Paradigmensysteme gegenüber mit verschiedenen Wahrnehmungsmustern und Wertesystemen, die miteinander kaum kompatibel erscheinen. Der bereits lange andauernde Krieg verstärkt dabei den ‚Tunnelblick‘ der beteiligten Akteure und lässt Vermittlungsansätze derzeit fast aussichtslos erscheinen, zumal es bei Wertekonflikten ohnehin sehr schwer ist, Kompromisse auszuhandeln.

Hoffnung lässt sich augenblicklich eigentlich nur in einen Leviathan setzen, der gleichermaßen machtvolle, möglichst neutrale und noch dazu strategische Kompetenzen besitzen und vereinen sollte. Vielleicht ergibt sich ein solcher aus einer fast irrational anmutenden Triade des Zusammenwirkens von UN, UN-Sicherheitsrat und China?

Im Sinne einer Funktionsaufteilung könnte der Generalsekretär der UN, Antonio Guterres, als „höchster“ und von einer weltweit anerkannten Organisation aus tätiger, neutraler Vermittler, zusammen mit dem Staatspräsidenten der Volksrepublik China, Xi Jinping, analog dem Minsker Format kooperieren, vermutlich mit weitaus größeren Impulsen auf Russland im Vergleich zu denen des ehemaligen Macron-Merkel-Teams. Putin könnte ein solches Vermittlungs- und Drucksetzungsformat vermutlich kaum ignorieren – auch weil das chinesische Politikmodell dem autoritären Verständnis Russlands ähnelt und damit mentalitätspolitisch auf seiner Linie läge.

Rainer Kilb ist Professor für Soziale Arbeit und Konfliktmanagement an der Mannheim University of Applied Sciences. Zu seinen Publikationen zählt „Konflikte, Radikalisierung, Gewalt (Beltz-Verlag 2020).

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