Welche emotionalen Mechanismen prägen die Debatte über den Krieg?

Weiter Waffen für die Ukraine? Diese Debatte spaltet die Gesellschaft. Die Sozialpsychologie gibt Hinweise, wie viele sich ihre Meinung dazu bilden – ein Gastbeitrag von Timm Beichelt.
Wenige politische Themen sind so existenziell wie die Frage, unter welchen Bedingungen tödliche Waffen beschafft, verwendet oder weitergegeben werden. Daher ist wenig verwunderlich, dass unterschiedliche Positionen nicht nur existieren, sondern mit besonderer Heftigkeit vertreten werden. Sollten weiterhin Waffen an die Ukraine geliefert werden oder nicht?
Das Problem bei der Suche nach einer angemessenen Antwort liegt leider nicht auf der Hand. Beide Optionen können zu höchst unerwünschten Resultaten führen. Nur hängt deren Eintreffen von Faktoren ab, die sich kaum kontrollieren lassen. Auch historische Analogien lassen sich nur begrenzt heranziehen. Wir können zum Beispiel einfach nicht wissen, ob im Jahr 1938 massive Waffenlieferungen an die Tschechoslowakei den Weltkrieg verhindert hätten.
Welche Mechanismen sind aber dafür verantwortlich, dass wir unser Nichtwissen nicht einfach zugeben, sondern im Gegenteil für Dinge einstehen, deren Ausgang wir gar nicht vorhersehen können? In der Sozialpsychologie, in der sich das Menschenbild auf Emotionen als zentralem Teil des Selbst stützt, gibt es dafür eine relativ einfache Antwort: Dort gehen Autoren wie Joshua Greene und Jonathan Haidt davon aus, dass gesellschaftliche Diskurse nicht durch Inhalte bestimmt werden, sondern durch das Bedürfnis sozialer Gruppen nach innerem Zusammenhalt.
Damit wird die Position vertreten, dass bei öffentlichen Debatten nicht die Inhalte das Entscheidende sind. In der Tat wird in der Emotionenforschung die These vertreten, dass eine Reihe von Mechanismen jeden einzelnen von uns immer wieder dazu bringen, Überzeugungen aus dem Bauch heraus zu vertreten.
Inhaltliche Begründungen werden gewissermaßen im Nachhinein entwickelt, um das Denken mit dem Fühlen in Einklang zu bringen. Dieser Mechanismus funktioniert nicht nur auf individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene. Eindeutige „Wahrheiten“ gibt es in dieser Denkweise nicht mehr, sondern verfestigte Muster, deren Stabilität sich aus dem Zuspruch aus der eigenen Gruppe ebenso ergibt wie durch Widerspruch aus der Fremdgruppe.
Zur Serie
Die Menschen in der Ukraine brauchen Frieden, aber es herrscht Krieg. Welche Wege können zum Frieden führen? Welche Rolle soll Deutschland dabei spielen?
In der Serie #Friedensfragen suchen Expertinnen und Experten nach Antworten auf viele drängende Fragen. Dabei legen wir Wert auf eine große Bandbreite der Positionen – die keineswegs immer der Meinung der FR entsprechen.
Alle Texte finden sich unter www.fr.de/friedensfragen. FR
Der Sachverhalt lässt sich zweifellos mit Blick auf den Ukraine-Krieg beobachten. Auf der einen Seite steht eine größere Zahl professionaler Beobachter der russischen wie der ukrainischen Politik. Sie kommen unisono zu dem Schluss, der russische Angriff sei als Vernichtungskrieg angelegt, dem sich die Ukraine zu Recht und mit erstaunlichen Erfolgen entgegenstemme. Der Verweis auf das eigene Expertentum gehört dabei zum Standardrepertoire der Argumentation – mit dem Nachteil, dass sich die Osteuropa-Expertise nur in wenigen Fällen auf mögliche Eskalationsdynamiken von Großkonflikten bezieht.
Auf der anderen Seite üben sich Personen wie Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer und der Journalist Jakob Augstein darin, die Haltung der vermeintlichen stillen Mehrheit auszudrücken. Diese bestehe grosso modo darin, dass die Ukraine kein richtiger und dazu korrupter Staat sei und dass die deutsche Vergangenheit eine besondere Verpflichtung zu einem friedlichen Europa impliziere – ein russischer Diktatfrieden sei das kleinere Übel gegenüber dem europäischen Flächenbrand.

Die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die dieser Position folgen, verfügen über keine an Osteuropa geschulte Sachkenntnis. So ist es auch kein Wunder, dass hier keine konkreten Vorschläge entstehen können, wie eine fortschreitende Vernichtung der Ukraine – die ja immerhin das erklärte Kriegsziel Russlands ist – verhindert werden könnte.
Wie aber können sich Forscherinnen und Forscher verhalten, um mit offenerem Geist an der Debatte teilzunehmen? Eine Lösung könnte darin bestehen, sich an jenen Stellen zurückzuhalten, an denen keine eigene Expertise vorliegt. Von der Osteuropaforschung können Vorschläge zur Beendigung des Kriegs vielleicht gar nicht erwartet werden. Über ein Ende der Kampfhandlungen wird nun einmal nicht nur in Moskau und Kiew, sondern auch in Washington und Brüssel entschieden. Ihr Wissen wird aber sicherlich benötigt, um das weiterhin destabilisierende Agieren Russlands in seiner gesamten Nachbarschaft einzuordnen. Und Konfliktforscher könnten davon absehen, die russische Position zu verteidigen und sich auf die Frage konzentrieren, welche Strategien zur Eindämmung ultra-aggressiver Großmächte das Internationale Recht und die Konfliktforschung bereithalten. Damit würden sie einen dringend benötigten Beitrag zu einer öffentlichen Debatte leisten, die sich nicht in emotional geprägtem Lagerdenken erschöpft.
Timm Beichelt ist Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina.